# taz.de -- Tag gegen Gewalt an Frauen: Raus aus dem Dunkeln
       
       > Im vergangenen Jahr wurden erstmals mehr Frauen als Männer in Deutschland
       > getötet. Gewalt gegen Frauen muss endlich ernster genommen werden.
       
 (IMG) Bild: Die Vereinten Nationen bezeichneten die Zunahme von häuslicher Gewalt als Schattenpandemie
       
       Maria lernt ihren Partner mit Mitte 20 kennen, sie ist gerade fertig mit
       ihrer Ausbildung zur Krankenpflegerin. Die Beziehung ist schön, sie fühlt
       sich geliebt. Er ist manchmal eifersüchtig, will viel Zeit mit ihr
       verbringen, sie freut sich darüber, trifft dadurch aber immer weniger ihre
       Freundinnen, ihr soziales Netz wird kleiner. Ihr Partner ist älter, wünscht
       sich Kinder, Maria wird mit Ende 20 schwanger. In der Schwangerschaft
       werden die Probleme größer, er beginnt, sie zu kontrollieren, sie soll
       nicht mehr allein aus dem Haus, alles zu gefährlich, alles gefährde die
       Schwangerschaft, sagt er.
       
       Nach der Entbindung bekommt sie aufgrund ihres schon vor der Elternzeit
       bescheidenen Einkommens wenig Elterngeld, ihr Partner hat deutlich mehr
       Einkommen zur Verfügung. Er bestimmt nun, wofür das Geld ausgegeben wird,
       gibt ihr manchmal ein „Taschengeld“. Sie darf nur noch mit seiner Erlaubnis
       Geld für Dinge ausgeben, die sie benötigt. Irgendwann trifft sie sich mit
       ihrer Schwester. Ihm erzählt sie nichts, sie hat Angst vor seiner Reaktion.
       Er findet es heraus, vermutet einen Liebhaber, wird wütend und schlägt sie
       vor dem Kind. Gewalt und Kontrolle werden zum Alltag. Je mehr sie ihre
       Autonomie zurückerlangen möchte, desto massiver wird die Gewalt. Sie weiß,
       dass eine Trennung für ihn der endgültige Kontrollverlust sein wird, weil
       er sie dann nicht mehr „besitzt“, keine Macht mehr ausüben kann.
       
       Sie hat Angst. Und kein Geld für eine eigene Wohnung. Als systemrelevante
       Krankenpflegerin wird sie so schlecht bezahlt, dass sie es nicht schaffen
       wird, sich und ihr Kind allein zu ernähren. Sie weiß, dass ihr anstrengende
       familiengerichtliche Verfahren bevorstehen, in denen ihr Ex versuchen wird,
       seine verlorene Kontrolle über für sie kostenintensive, nervenaufreibende
       Prozesse wieder zurückzuerlangen. Sie ahnt, dass ihr von Justiz und Polizei
       nicht geglaubt werden wird. Sie weiß, dass ihr ein anstrengender
       Überlebenskampf bevorsteht. Sie kommt immer wieder zu mir in die Beratung,
       die Gebühren muss sie sich von ihrer Nachbarin leihen, es fällt zu sehr
       auf, wenn sie Geld vom Konto abhebt. Als ihr Partner sie eines Abends fast
       totwürgt, kann sie mit Hilfe ihrer Nachbar*innen die endgültige Trennung
       vollziehen.
       
       ## Große Gefahr im sozialen Nahbereich
       
       Es gibt wenig, das so radikal, mutig und kraftvoll ist wie eine Frau, die
       in einer gewaltvollen Beziehung aufsteht und geht. Gleichzeitig macht es
       wütend, dass [1][Gewaltbetroffene in Deutschland] diese Kraft für die
       Trennung aufwenden müssen.
       
       Die Vereinten Nationen bezeichneten vor zwei Jahren die deutliche Zunahme
       von häuslicher Gewalt als Schattenpandemie, die Zahl der Betroffenen ist in
       den [2][vergangenen Jahren massiv gestiegen] – und die Dunkelziffer hoch.
       Nur ein Bruchteil erstattet Anzeige und landet damit in den Statistiken.
       Während der Pandemie bekam das Thema endlich etwas mehr Öffentlichkeit,
       verschwand danach jedoch wieder. Im besten Fall wird es einmal im Jahr zum
       Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen thematisiert.
       
       Im Verborgenen ausgeübt, drängen die Taten nur an die Öffentlichkeit, wenn
       sie besonders brutal sind, tödlich enden oder von BPoC und Menschen ohne
       deutschen Pass begangen werden. Die Skandallust und Rassismus befriedigende
       Aufmerksamkeit, die diese Einzelfälle erfahren, verdecken, dass die viel
       größere Gefahr für Frauen und Kinder statistisch gesehen von Personen des
       sozialen Nahbereichs – Partnern, Vätern und Brüdern – ausgeht. Die
       Betroffenen stammen aus allen sozialen Schichten und Milieus, besonders
       gefährdet sind aber jene, die noch schlechteren Zugang zu Gewaltschutz
       haben: Frauen ohne sicheren Aufenthalt, rassifizierte, behinderte und trans
       Frauen. Ratgeber erklären Frauen, wie sie sich vor Übergriffen schützen
       können, aber dass nicht der Heimweg im Dunkeln die statistisch größte
       Gefahr für Frauen darstellt, sondern der Moment, in dem sie die Tür zu
       ihrem eigenen Zuhause öffnen, wird ignoriert.
       
       Immer noch gilt Partnerschaftsgewalt als Tabuthema. Als ginge es uns nichts
       an, wenn jede dritte Frau mindestens einmal im Leben von sexualisierter
       und/oder körperlicher Gewalt betroffen ist und wir mit Sicherheit alle im
       Bekannten- und Freundeskreis sowohl Betroffene als auch Täter haben.
       
       Frauenhäuser können nicht die einzige Lösung des Problems sein. Als
       Gesellschaft dürfen wir nicht erst helfen, wenn die Gewalt bereits ausgeübt
       wurde, wir müssen überlegen, was wir tun können, damit Männer Frauen
       gegenüber gar nicht erst gewalttätig werden. Wir müssen uns fragen,
       inwieweit die bestehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen
       Strukturen Abhängigkeiten von Frauen fördern und es ihnen schwer machen,
       sich zu schützen. Wir müssen eine Sprache für die männliche Gewalt finden,
       die im letzten Jahr dazu geführt hat, dass erstmalig mehr Frauen als Männer
       in Deutschland getötet wurden, zwei Drittel davon im häuslichen Kontext.
       Härtere Strafen bringen uns nicht weiter: Das Zauberwort heißt Prävention.
       Und zwar Prävention, die das System und [3][unser Denken] verändert. Klar,
       solch grundlegende Veränderungen werden einigen mehr abverlangen, aber so
       ist das mit der Macht: Sie zeigt sich als ungeschriebenes Gesetz – so
       lange, [4][bis wir sie in Frage stellen].
       
       ## Jeden dritten Tag stirbt eine Frau
       
       Es ist nicht utopisch, für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der
       Frauenhäuser nicht mehr gebraucht werden. Es ist die Pflicht der Politik,
       dafür zu sorgen, dass Frauen ein autonomes, menschenwürdiges Leben frei von
       Gewalt führen können und Partnerschaften nicht aufgrund strukturell
       bedingter Abhängigkeiten bestehen bleiben, sondern allein aufgrund
       selbstbestimmter Entscheidung.
       
       Maria hat sich getrennt, bevor Schlimmeres passieren konnte. Jeden 3. Tag
       schafft es eine Frau in Deutschland nicht, rechtzeitig zu gehen, und wird
       durch die Gewalt ihres (Ex-)Partners getötet.
       
       25 Nov 2022
       
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