# taz.de -- Russische Scheinreferenden in der Ukraine: Erzwungene „Willensbekundung“
       
       > Im besetzten ukrainischen Cherson werden Fragebögen für das
       > Scheinreferendum über den Anschluss an Russland verteilt. Viele Bewohner
       > haben Angst.
       
 (IMG) Bild: Vorbereitungen auf das „Referendum“ in Donezk – das geplante Ergebnis hängt schon an der Wand
       
       „Sind Sie für den Austritt des Gebietes Cherson aus dem Staatsverbund der
       Ukraine, die Bildung eines unabhängigen Staates auf dem Territorium des
       Gebietes Cherson und seine Eingliederung in die Russische Föderation als
       Teil derselben?“ Solche „Musterfragebögen“ haben die russischen Besatzer
       den Einwohnern des derzeit russisch kontrollierten Gebietes Cherson am 22.
       September gezeigt. Ähnlich formuliert ist der „Fragebogen“ für Teile des
       benachbarten Gebietes Saporischja.
       
       Am 22. September kündigte die vom russischen Militär zur Leiterin der
       sogenannten Zentralen Wahlkommission des Gebietes Cherson ernannte Marina
       Sacharowa das Verfahren zur Durchführung des sogenannten [1][Referendums]
       und die darin gestellte Frage an.
       
       „Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass dieser ‚Fragebogen‘ mehrere
       Fragen enthält. Tatsächlich ist es aber nur eine einzige Frage“, erklärte
       sie. Dass sie diese „Referenden“ vom 23. bis 27. September in den temporär
       von Russland besetzten Gebieten der Ukraine durchführen, haben die
       russische Militärverwaltung und ihre einheimischen Kollaborateure am 20.
       September mitgeteilt.
       
       Allein für das Gebiet Cherson, zu dem die Besatzer noch einige aktuell von
       ihnen kontrollierte Bezirke aus dem angrenzenden Gebiet Mykolajiw
       „hinzugefügt“ haben, wurden 750.000 „Fragebögen“ gedruckt. Sie kündigten
       darüber hinaus die Einrichtung von acht „territorialen Wahlkommissionen“
       und 198 „bezirklichen Wahlkommissionen“ an. Und das, obwohl die Zahl der
       noch im Gebiet Cherson verbliebenen Einwohner real um ein Vielfaches
       geringer ist.
       
       ## Propagandavideos mit prorussischen Einwohnern
       
       Zum Vergleich: In den Wählerverzeichnissen für die Kommunalwahlen am 25.
       Oktober 2020 waren 806.000 Wähler registriert. Viele Bürgermeister von
       Städten und Gemeinden im Gebiet Cherson aber melden, dass mittlerweile
       zwischen 65 und 85 Prozent der Einwohner ihre Heimatorte verlassen haben.
       
       Dazu kommt, dass nicht klar ist, wie die Besatzer das „Referendum“ in den
       Gemeinden Novovorontzovka und Vysokopillya durchführen wollen, die aktuell
       teilweise unter der Kontrolle der ukrainischen Armee stehen.
       
       Zur Vorbereitung des „Referendums“ schickten die Okkupanten den Leiter der
       Besatzungsverwaltung der Region, Wolodimir Saldo, eilig nach Cherson
       zurück. Sie verbreiteten über soziale Medien Videointerviews mit
       Einwohnern, die den Anschluss des Gebietes an Russland befürworten.
       
       Alle darin befragten Menschen sind reale Personen, Menschen, die aus
       unterschiedlichen Gründen zu Kollaborateuren geworden sind. Zum Beispiel,
       weil sie irgendwelche Posten bekommen haben.
       
       ## Mit vorgehaltener Maschinenpistole
       
       In den Videos sieht man auch lokale Pflegeheime, in denen Menschen mit
       körperlichen Beeinträchtigungen und psychisch Kranke leben. Unter anderem
       Bewohner eines Heims in Kachowka, denen die Besatzer im Juni ihre Pässe und
       Bankkarten abgenommen hatten, womit sie jetzt völlig abhängig vom Willen
       des russischen Militärs sind.
       
       Die verbliebenen Einwohner des Chersoner Gebietes haben von dem geplanten
       „Referendum“ durch russische Fernsehsender erfahren.
       
       „Wir haben in unserer Stadt nichts über das Referendum gehört. Niemand hat
       uns darüber informiert, es gab keine Werbung, wir wussten nicht einmal,
       wann es stattfinden sollte. Jetzt haben wir Angst, dass wir mit Gewalt und
       Maschinengewehren gezwungen werden, in diese ‚Wahllokale‘ zu gehen und dort
       unsere Kreuzchen zu machen. Wir wollen hier überhaupt kein Russland haben
       und warten auf unsere Befreiung durch die ukrainische Armee“, erzählt ein
       Einwohner der Stadt Nowa Kachowka, der anonym bleiben will.
       
       Einwohner der benachbarten Stadt Kachowka berichten, dass jetzt in der
       Stadt Werbung für das bevorstehende „Referendum“ gemacht werde, die aber
       viele Menschen gar nicht erreicht. „Nachdem hier in der Stadt viele
       Tschetschenen und andere Besatzer aufgetaucht sind, versuchen alle meine
       Bekannten und auch ich, uns möglichst nicht mehr auf der Straße
       aufzuhalten.
       
       Draußen ist es einfach ziemlich schlimm: Die russischen Soldaten haben sich
       in unseren Schulen und Kindergärten einquartiert. Sie fahren ständig ums
       Krankenhaus herum, schießen, entführen Menschen. Wir gehen höchstens
       nochmal Brot oder Lebensmittel kaufen. Ich selber versuche auch, möglichst
       nicht nach links und rechts zu schauen, um die russischen Flaggen nicht zu
       sehen. Mir wird kotzübel von ihrem bloßen Anblick“, erzählt ein Einwohner
       Kachowkas.
       
       ## Angst vor Zwangseinberufung in die russische Armee
       
       Die Einheimischen sind davon überzeugt, dass die Organisatoren die
       Ergebnisse des „Referendums“ schon vorbereitet haben und dass ihre
       Teilnahme oder Nichtteilnahme an diesem Spektakel nichts daran ändern wird.
       
       Und sie haben auch schon neue Restriktionen der Besatzer im Zusammenhang
       mit der angeblichen „Willensäußerung“ erfahren: Die Russen haben für die
       Zeit vom 23. bis 27. September die Bewegungsfreiheit von Menschen außerhalb
       ihrer Siedlungen und der Region Cherson eingeschränkt.
       
       Unmittelbar nachdem der russische Präsident Wladimir Putin am Mittwoch die
       [2][Teilmobilmachung] auf seinem Staatsgebiet erklärt hatte, kam es zu
       Problemen bei der Ausreise von Männern im wehrpflichtigen Alter aus dem
       Gebiet Cherson.
       
       Die Menschen befürchten, dass im Fall des sogenannten Anschlusses ihrer
       Region an Russland alle Männer zwangsweise in die russische Armee
       einberufen und gezwungen würden, gegen ihre Landsleute, Freunde und
       Angehörigen zu kämpfen. Ähnliches geschieht schon jetzt in den besetzten
       Gebieten Luhansk und Donezk und auf der Krim.
       
       Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey]
       
       23 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
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