# taz.de -- Neue Volkslieder in der Ukraine: Die eigene Stimme wiederfinden
       
       > Seit Beginn des Kriegs haben Musiker in der Ukraine neue Lieder
       > geschrieben. Diese verdrängen die englischen und russischen Songs aus den
       > Charts.
       
 (IMG) Bild: Im April in Borodjanka nahe Kyjiw: Eine Musikerin performt vor einem zerstörten Gebäude
       
       Als mir mein Großvater Fedos einmal von seiner Kindheit in der Zeit des
       Zweiten Weltkriegs erzählte, erwähnte er einen interessanten Aspekt: Obwohl
       Millionen von Ukrainern in den Reihen der Sowjetarmee gekämpft und die
       Nazis aus der Ukraine verjagt hatten, gibt es darüber kein einziges
       Volkslied. Dabei sind die Ukrainer ein sehr sangesfreudiges Volk.
       
       Seine gesamte Geschichte – Kosakenzüge, Bauernaufstände, der Kampf für die
       Unabhängigkeit im Verlauf des 20. Jahrhunderts – spiegelt sich auch in
       entsprechenden Liedern wider. Aber alle bekannten Lieder über den Zweiten
       Weltkrieg gab es nur in russischer Sprache. Es schien, als habe ein ganzes
       Volk seine Stimme verloren.
       
       Dabei lässt sich das leicht erklären. Denn das Herz des Volkes war schon
       unter Stalin während des Holodomor, der großen Hungersnot von 1932/33,
       vernichtet, Hunderttausende Ukrainer waren in sibirische Lager verschleppt
       worden.
       
       Und die Elite der ukrainischsprachigen Intelligenz der 1920er und 1930er
       Jahre, Dichter, Theaterleute und Künstler – bekannt als „die hingerichtete
       Renaissance“ – waren 1937 zu Tode gequält worden. Für diejenigen, die davon
       verschont blieben, wurden unbedingter Gehorsam gegenüber einem repressiven
       Staat und die russische Sprache quasi die Eintrittskarte zum Leben.
       Russisch wurde zur Lingua franca der Ukraine.
       
       Musik zur Beruhigung 
       
       Lieder spiegeln immer echte Gefühle wider – aber für die war in der
       Sowjetunion kein Platz. Ganz anders die Situation zu Beginn des russischen
       Überfalls auf die Ukraine: Lieder wurden sofort die Stimme des ukrainischen
       Widerstands und der Empörung. Als mir in den ersten Wochen vor lauter
       Schreck fast das Herz aus der Brust sprang, beruhigte mich das bekannte
       ukrainische Lied: „Oh, roter [1][Schneeballstrauch auf der Wiese]“. Es
       wurde vor mehr als hundert Jahren nach Motiven eines Kosakenlieds aus dem
       17. Jahrhundert geschrieben, handelt vom Unglück der Ukraine und vergleicht
       sie mit einem geknickten „roten Schneeballstrauch“, einem der Symbole des
       Landes.
       
       Das Lied verspricht, dass die Ukrainer alles tun werden, um den
       Schneeballstrauch, also die Ukraine, wieder „aufzurichten“ und
       „aufzumuntern“. Der Erste, der dieses Lied neu interpretierte, war der
       bekannte Sänger Andrij Chlivnjuk von der Gruppe Boombox, der wie viele
       andere Künstler mit dem Kriegsbeginn das Mikrofon gegen eine Waffe
       eingetauscht hat. In verschiedenen Fassungen, darunter eine Bearbeitung von
       [2][Pink Floyd], kann man das Lied auf YouTube, im Radio und durch viele
       geöffnete Autofenster hören.
       
       Jetzt gibt es Hunderte verschiedener Interpreten, die eigene Lieder über
       die aktuellen Ereignisse machen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren haben
       sie englisch- und russischsprachige Lieder von den ersten Plätzen der
       Charts verdrängt. Die Ukrainer haben ihre Stimme wiedergefunden.
       
       Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey] 
       
       Finanziert wird das Projekt von der [4][taz Panter-Stiftung]. 
       
       Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA
       im September heraus.
       
       17 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=yuvGeMYmsug
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=saEpkcVi1d4
 (DIR) [3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
 (DIR) [4] /!p4550/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rostyslav Averchuk
       
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