# taz.de -- Die Wahrheit: Kein Glück gehabt
       
       > Immer schon spielt der alte Vater Lotto. Nun ist er im Pflegeheim. Und
       > die verantwortungsvolle Aufgabe der Scheinabgabe wechselt zum Sohn über.
       
 (IMG) Bild: Lotto-Berater Lutz Trabalski
       
       Die Lottozahlen vom letzten Wochenende lauten: 15, 17, 20, 22, 23 und 26.
       Alle gezogenen Zahlen liegen innerhalb von zwölf Ziffern, also zwischen 15
       und 26. Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand ist, würde eine solche
       Zahlenreihe tippen! Allerdings hat tatsächlich ein Mensch in Deutschland
       diese sechs Zahlen angekreuzt und gewinnt nun 2.357.345,80 Euro.
       
       Vielleicht hat jene Glückspilzin nicht einmal selbst über die Zahlen
       entschieden, sondern es ist ein maschineller Zufallstipp gewesen. Mein
       Vater und ich jedenfalls sind total sauer auf diese Zahlen. Seit Jahren
       bilden wir eine Tippgemeinschaft. Mein Vater hat früher mit einer
       unglaublichen Geduld sämtliche Tippreihen über Jahre von Hand ausgewertet,
       um den idealen Tipp zusammenzustellen, den „Sicheren“, den
       „Hundertprozentigen“ für die sechs „Richtigen“. Weder das Glück noch der
       Zufall haben ihn je belohnt. Der Einzige in der ganzen Familie, der an
       seinen Tipp nach wie vor glaubt, bin ich.
       
       Nun ist mein Vater schwer erkrankt, und damit ist der verantwortungsvollste
       Job in unserer Familie auf mich übergegangen. Ich muss Sorge tragen, dass
       der Lottoschein allwöchentlich abgegeben ist! Denn zur Zeit lebt er im
       Pflegeheim. Die Krankheiten meines Vaters haben ihn gezwungen, einige
       Schamgrenzen zu überwinden in der notwendigen Pflege und Fürsorge. Die
       sicherlich schlimmste und schwierigste Grenze für ihn war, dem im Gegensatz
       zu meinem sehr organisierten Bruder, der sich das Lottogeld aber lieber
       spart, unordentlichen Sohn, also mir, die Aufgabe übertragen zu müssen,
       allwöchentlich den Schein zur Annahmestation zu bringen. Bei jedem meiner
       Besuche ist nun Vadders erste Frage: „Hässt du dän Schien ok affegirm?“ Und
       ich antworte mit der gebotenen Sorgfalt: „Häwick!“
       
       Die Rente ist weit niedriger als der Heimbeitrag. Dazu kommt: Die
       Krankheiten haben sich verschlimmert, umso dringlicher also ist für ihn der
       Wunsch, dass es endlich zum Lottogewinn kommt. Zum einen, um das Geld in
       der Pflege einsetzen zu können, zum anderen aber auch, um Frau und Söhnen
       überhaupt noch etwas hinterlassen zu können. Die Lotto-Spielerei aber wird
       traditionell durch seine Frau kritisiert: „Rausgeschmissenes Geld!“, nennt
       sie es immer wieder. Und mit Furor: „Schall ick moal tosammen tellen,
       wievierl Geld du doar oll rute schmierten hässt?“
       
       Selbstverständlich versuche ich stets und allzeit, meinen Vater zu
       verteidigen, nicht nur weil ich eben Mitglied der Tippgemeinschaft bin. Ich
       sage dann so was wie: „Ja, Mama, aber wenn wir mal Glück haben?“ Vorigen
       Freitag, nur einen Tag vor jener vermaledeiten Samstagsziehung, war es
       wieder so weit. Dieses Mal sah Mama mich lange an. Dann holte sie sehr tief
       Luft und sagte laut: „Glück? Weißt du eigentlich, was Glück ist? Wenn du
       eine leere Flasche mitten in ein Feld stellst, und dann fliegt ein Vogel
       drüber und scheißt. Wenn der in die Flasche trifft – das ist Glück!“
       
       20 Jul 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernd Gieseking
       
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