# taz.de -- Die Wahrheit: Morbides Mittelmeer
       
       > Menschen sterben im Mare Nostrum. Und Menschen baden darin. Ist es
       > zynisch, zu überlegen, was beides miteinander zu tun hat?
       
 (IMG) Bild: Die meisten Menschen setzen aus Libyen nach Italien über
       
       In einem besonders unrühmlichen Moment kindlicher Wissbegier hatte ich mich
       einmal ernsthaft gefragt, ob, wenn Totes sich irgendwann in seine
       molekularen oder atomaren Bestandteile zersetzt, also Materie wieder
       eingespeist wird in den ewigen Kreislauf der Elemente, ich nicht, rein
       theoretisch und unabsichtlich, längst submikroskopische Teile von Adolf
       Hitler eingeatmet haben könnte. Unwahrscheinlich, gewiss. Aber nicht
       unmöglich.
       
       Offenbar ist die Gleichzeitigkeit der Dinge etwas, das entweder gleichmütig
       oder kirre macht. So verbringen noch immer und mit weitem Abstand mehr
       Menschen ihren Urlaub am Mittelmeer als darin ertrinken. Vor die Wahl
       gestellt, sind die Leute offenbar lieber gleichmütig. Wer wollte schon
       kirre werden? Dabei würde man genau das, dächte man zu lange über die
       Gleichzeitigkeit der Dinge nach. Ich kann das frei drehende
       Seitwärtsgrübeln hier gern mal übernehmen und, weil’s so schön blau und
       verheißungsvoll glitzert, beim Beispiel bleiben.
       
       Seit 2014 haben schätzungsweise 21.500 Menschen im Mittelmeer ihr Leben
       gelassen, allein 2022 waren es bisher 689. Nicht beim Schnorcheln oder
       Surfen im, sondern bei der Flucht über das Meer hinweg. So genau weiß man
       das nicht, weil sich ein Ertrinkender vor dem Ertrinken selten
       vorschriftsmäßig abmeldet. Vielleicht taucht gerade jetzt 70 Kilometer
       südlich von Lampedusa ein Mädchen unter und nicht wieder auf. Möglich
       wär’s, denn ermöglicht wird’s, aber das ist Politik und findet auf den
       vorderen Seiten statt.
       
       Eine Gleichzeitigkeit zweiter Ordnung wäre der eingangs erwähnte Umstand,
       dass Menschen gern in einem Meer schwimmen, in dem gleichzeitig andere
       (tote) Menschen schwimmen. Es wird also freiwillig und zu
       Vergnügungszwecken in ein Wasser gegangen, in dem Leichen treiben, deren
       Körper bereits Verwesungsprozessen ausgesetzt sind. Warum? Vielleicht, weil
       es gar so viel Wasser ist mit vergleichsweise wenigen Leichen drin? Weil
       man die Verwesenden nicht sehen kann? Vermutlich.
       
       Zwar stiege niemand freiwillig in einen Pool, auf dessen Grund ein Korpus
       modert. Wäre aber ein Sprung in ein L-förmiges Schwimmbecken okay im
       Wissen, dass gleich um die Ecke ein Leichnam dümpelt? Wohl kaum. Es scheint
       also ein bestimmtes Wasser-Leichen-Verhältnis zu geben, einen vermutlich
       statistisch errechenbaren Punkt, an dem ein entsetztes „Um Gottes willen!“
       umschlägt in ein heiteres „Puh, na ja, okay, aber scheiß drauf!“. Sind
       diese Überlegungen zynisch? Sind es die Verhältnisse, innerhalb derer
       solche Überlegungen überhaupt erst angestellt werden können?
       
       Neulich wurden vor unserem Haus schöne Glasfaserkabel verlegt, rot mit
       weißen Streifen. An einer Schlaufe blieb ich beim Drübersteigen mit der
       Schuhspitze hängen. Ich bin über das Internet gestolpert. Kirre.
       
       27 May 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Arno Frank
       
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