# taz.de -- Kult um fränkische Weinmarke: Club der kahlen Winzer
       
       > In Neuses am Berg vermarktet ein Glatzenverein den Wein der Region. Über
       > zwei Männer, die eine Tradition am Leben halten, die es ohne sie wohl
       > nicht gäbe.
       
 (IMG) Bild: Charlie Erk und Heinrich Stier vom Neuseser Glatzenclub mit „Glatzenpoliertuch“
       
       Neuses am Berg taz | Karl-Heinz „Charlie“ Erk hat in seinem Leben knapp 200
       kahle Männerköpfe geküsst. So empfängt der Ehrenpräsident des Neuseser
       Glatzenclubs die neuen Mitglieder. Zuvor müssen diese allerdings noch eine
       Prüfung bestehen. Ihre Glatze muss so groß sein, dass die Weinprinzessin
       von Neuses ihre Hand darauf ablegen kann.
       
       Dann schüttet sie dem neuen Mitglied einen Schluck Wein auf den Kopf und
       Ehrenpräsident Charlie Erk darf die weinfeuchte Glatze am Glatzenbrunnen
       vor dem Neuseser Rathaus küssen.
       
       2019 küsste Charlie Erk die letzte Glatze. Denn wegen Corona fiel die Taufe
       zwei Jahre hintereinander aus. Und dann auch noch das: Im Sommer 2021 trat
       eine Frau vor dem Neuseser Rathaus zu stark aufs Gaspedal und krachte mit
       ihrem Auto in den Neuseser Glatzenbrunnen. Der Brunnen also, vor dem
       Charlie Erk immer Glatzen küsst.
       
       Bei Heinrich Stier ist die Glatze nicht groß genug. Da kann die Hand der
       [1][Weinprinzessin] noch so klein sein, sie würde nicht auf die kahle
       Stelle am Kopf passen. Aber Stier gehört ein Weingut mit rund 26.000
       Quadratmeter Neuseser Glatzen – so heißt das Anbaugebiet hier, die
       sogenannte Weinlage. „Auf meine Glatzen könnten Tausende Weinprinzessinnen
       ihre Hände legen“, sagt Stier. „Deshalb bin ich trotz der Haare Mitglied im
       Club.“ Der gebürtige Neuseser ist Geschäftsführer des Glatzenclubs und hält
       laut eigener Aussage den Laden „'zamm“.
       
       Es ist nicht die erste schwere Zeit für die Neuseser, ihren Wein wollte bis
       in die 80er niemand trinken. Dann kam es zu einem Marketing-Coup, den sich
       keine Werbeagentur hätte besser ausdenken können. Alles begann mit einem
       betrunkenen Bürgermeister, einem engagierten Glatzkopf aus Hessen und einem
       Namen, den sich die Menschen merken konnten: der Neuseser Glatzenwein.
       
       ## Die Idee
       
       Vor dem „Weinstall Stier“ sitzen Charlie Erk und Heinrich Stier unter einer
       Pergola. Auf dem Plastiktisch zwei Gläser und der Neuseser Glatzen von
       2019. Es ist 14 Uhr und es wird eingeschenkt. Erk ist 78 und Stier 74. Erk
       ist Automechaniker, Stier Winzer und Gastwirt. Beide sind in Rente, aber
       beide können und wollen nicht so richtig loslassen.
       
       1971 wurde das Deutsche Weinrecht neu verfasst. Die Winzer konnten sich
       einen Namen für ihre Weinlage ausdenken. „Wir machten uns Gedanken“,
       erzählt Stier. „Ein einheitlicher Name war wichtig, da ging es grade
       richtig los mit der Globalisierung von Wein.“ Die Neuseser brauchten den
       Namen für die Vermarktung, der Wein musste verkauft werden, auch über die
       Grenzen von Franken hinaus.
       
       „Alle Weinlagen in der Umgebung hatten einen Namen, nur die Neuseser
       nicht“, sagt Charlie Erk und streicht sich über die Sommersprossen auf
       seiner Glatze. Weine aus Franken heißen der Stammheimer Eselsberg, der
       Eschendorfer Lump, der Randersackerer Ewig Leben und der Veitshochheimer
       Sonnenschein.
       
       Heinrich Stier war 25, als die Neuseser versuchten, einen Namen für ihren
       Wein zu finden. „Wir saßen bei der Bürgerversammlung und tranken. Da fiel
       uns auf, dass viele von uns Glatzen haben“, sagt er. Der Bürgermeister sei
       gar nicht begeistert gewesen. Dann, ein paar Silvaner später, lustig vom
       Wein und weit nach Mitternacht, habe er dem Namen zugestimmt: Der Wein hieß
       jetzt Neuseser Glatzen.
       
       „Am nächsten Tag haben alle die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen“,
       sagt Stier und lacht. Der Mann hat Hände wie Bratpfannen, man sieht, dass
       er mehr Zeit auf dem Weinberg als vor einer Tastatur verbracht hat. Obwohl
       er in Rente ist, sitzt er in blauer Arbeitskleidung vor seinem Weingut.
       Stier hat einen Schnurrbart und lacht viel, wenn er von den Glatzen
       erzählt.
       
       Jedenfalls, der Glatzenwein sei zunächst nicht gut angekommen. „Wir Winzer
       fanden den Namen gut“, sagt Stier. „Immerhin besser als der ‚Kröver
       Nacktarsch‘.“ So gut wie der Kröver Nacktarsch, eine Weinlage an der Mosel,
       verkaufte sich der Neuseser Glatzenwein leider nicht.
       
       ## Als der Glatzenclub geboren wurde
       
       Dann, 1980, kam die Wende für den Glatzenwein. Der Unternehmer Heinrich
       Gold aus Hessen war in Franken zu Besuch, erzählt Ehrenpräsident Erk. „Er
       las in der Zeitung vom ersten Neuseser Glatzen-Weinfest.“ Heinrich Gold,
       auf dem Kopf kahl wie ein Baum im Winter, konnte es nicht glauben. In
       seiner Heimatstadt Schlüchtern in Hessen war er nämlich Vorsitzender eines
       Clubs: dem Club der fidelen Glatzköpfe.
       
       Für das erste Weinfest in Neuses am Berg mietete Heinrich Gold einen Bus
       und karrte den Club der fidelen Glatzköpfe nach Franken. Weil die Hessen
       viele Kontakte zu Glatzenclubs in ganz Europa hatten, fand in Neuses am
       Berg bald das erste internationale Glatzentreffen statt. „Die Besucher
       sagten dann, hier müsse sich mal das Mekka der Glatzen bilden“, erzählt
       Erk. Seitdem pilgern die Glatzenclubs jedes Jahr zum Weinfest nach Franken.
       
       Der Kult um die Glatzen brachte den Tourismus nach Neuses am Berg. Das Dorf
       sieht aus, als läge es in der Bretagne und nicht bei Würzburg. Die Straßen
       sind gepflastert, an der Hauptstraße steht Winzerhaus neben Winzerhaus.
       
       Jetzt in der Pandemie gibt es kaum Weinproben, aber manche überlegen sich
       andere Wege, Kundschaft anzulocken: Das Weingut Mangold etwa lässt
       Wohnmobil-Camper auf seinem Hof schlafen, wenn man dem Besitzer dafür eine
       Kiste Silvaner abkauft.
       
       Vor dem Weinstall Stier beginnt es zu regnen. Heinrich Stier packt die
       Weingläser und die fast leere Flasche ein, Charlie Erk nimmt die
       Sitzpolster mit. Die beiden setzen sich in Stiers Heckenwirtschaft. Ein
       kleines Lokal, in dem Stier seinen Wein ausschenkt. Nur 16 Wochen im Jahr
       haben sie geöffnet, das Lokal hat 40 Sitzplätze. So muss Stier keine
       Steuern auf den Wein bezahlen.
       
       Heckenwirtschaften gibt es in ganz Franken – und Deutschland. In anderen
       Regionen heißen sie Besen, Straußenwirtschaft oder Rädle. Das Prinzip ist
       überall gleich: Wer nur eigenes Essen und Trinken verkauft und die
       Sitzplätze beschränkt, darf steuerfrei und ohne Gaststättenkonzession
       verkaufen.
       
       ## „Gott möge diesem Trinker gnädig sein“
       
       An den Wänden von Stiers Heckenwirtschaft sind Weinreben aufgemalt, in der
       Ecke steht ein Keyboard. Über der Theke hängt ein Holzbalken. Darauf steht
       „Sit Deus propitius potatori“. Den Balken hat Stier selbst geschnitzt,
       „huic“ fehlt, versehentlich abgeschlagen. „Merkt doch keiner. Das heißt auf
       deutsch ‚Gott möge diesem Trinker gnädig sein‘ und das zählt“, sagt Stier.
       
       Stier will seine Glatze zeigen, seine Weinberge oberhalb der Mainschleife.
       Charlie Erk fährt. Im Kofferraum sind die Gläser und eine neue Flasche
       Wein. Die Mercedes B-Klasse von Erk ist innen so sauber, dass es fast einem
       Frevel gleich kommt, die Schuhe auf die Fußmatten zu stellen. Im Radio
       läuft SWR4. „Die spielen die schönste Musik für alte Leute“, sagt Erk und
       summt mit.
       
       ## Wegen Corona kein Weinfest
       
       In den Weinbergen liegt die Hütte am Stein, ein Holzhäuschen, wo Leute, die
       wandern, sich eine Flasche Silvaner reinstellen und vespern können. Der
       Wind zieht heute scharf durch die Weinberge, unten, am Fuß der Glatzen,
       liegt der Main. „Man schaut hier auf 6.000 Hektar Weinanbaugebiet“, sagt
       Stier. Es macht ihn stolz.
       
       In der Hütte hat jemand in das Holz des Tisches ein Herz geritzt. Stier
       stellt die neue Flasche Wein auf den Tisch. Natürlich wieder Silvaner,
       diesmal die Spätlese von 2018, im Bocksbeutel, die für Franken typische,
       bauchige Flasche. Die Männer stoßen an. „Wir müssen schauen, dass unsere
       Tradition wegen Corona nicht stirbt“, sagt Erk. „Zwei Jahre kein Weinfest,
       keine Heckenwirtschaft, keine Glatzentaufe und jetzt noch ein
       kaputtgefahrener Brunnen.“
       
       Charlie Erk musste das Präsidentenamt des Glatzenclubs vor drei Jahren aus
       Altersgründen abgeben. Seitdem ist er, der alles über die Glatzen weiß, der
       Ehrenpräsident. Auch seine Werkstatt hat er abgegeben, aber an Autos
       schraube er immer noch herum. Der 78-Jährige zeigt auf seinem Smartphone
       die grüne Karosserie eines VW Karmann Ghia Cabrios, die er gerade
       restauriert.
       
       Auch Heinrich Stier hat seinen Weinstall vor ein paar Jahren weitergegeben.
       Seine Tochter Angela, Neuseser Weinprinzessin im Jahr 2010, und ihr Mann
       führen mittlerweile das Weingut. Er hilft mit. Die Tochter ist die erste
       Frau, die Glatzenwein macht. Für den Glatzenclub, in den Jahrzehnte nur
       Männer eintreten durften, ist das neu.
       
       Nach der Flasche Silvaner in den Weinbergen fährt Stier noch schnell neue
       Stöcke für Glatzenwein holen. In Sommerhausen, ein bisschen weiter runter
       den Main, da werden die Jungreben der Region gezüchtet. Oben an den Trieben
       sind die Weinstöcke mit grünem Wachs eingestrichen, sodass sie nicht
       erfrieren. Das Wetter war 2021 schwierig, die Sonne schien viel zu wenig.
       „Aber der Weinstock ist gescheider als der Mensch“, sagt Stier, „der packt
       das schon.“
       
       14 Feb 2022
       
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