# taz.de -- Französische Drogenpolitik: Die allermeisten schauen weg
       
       > Im Nordosten von Paris leben Crack-User:innen unter widrigen Umständen in
       > einem Park. Streetworker fordern die Entkriminalisierung des Konsums.
       
 (IMG) Bild: Im September wurden die User:innen von der Polizei gegen ihren Willen umverfrachtet
       
       Paris taz | Im Norden eine Autobahnauffahrt, im Süden eine Eisenbahnbrücke,
       im Osten ein vierspuriger Kreisel, in der Mitte der Park Square de la Porte
       de la Villette. Eingepfercht hier im 19. Arrondissement im Nordosten von
       Paris leben viele Crack-User:innen der Hauptstadt. Ende September wurden
       sie mit Bussen von der Pariser Polizei gegen ihren Willen hier her
       verfrachtet. Am selben Tag wurde eine vier Meter hohe Mauer errichtet, die
       sie daran hindern soll, sich auf andere Viertel auszubreiten.
       
       Majid und Soraya, zwei Streetworker:innen des Vereins Charonne-Oppélia,
       fahren jeden Tag zusammen zu den Orten, wo sich Menschen aufhalten, die
       Drogen konsumieren. Davon gibt es einige im Pariser Nordosten, [1][und
       jeder hat seine eigene Droge]: Crack, Heroin oder Medikamente wie Skenan
       und Benzodiazepine. Die französische [2][Drogenpolitik] gehört zu den
       repressivsten in Europa. Seit September 2021 wird der Besitz der kleinsten
       Menge von egal welcher Substanz mit 200 Euro bestraft. „Wir plädieren für
       eine Entkriminalisierung des Konsums“, sagt Emmanuelle Sené, Leiterin der
       Anlaufstelle für Drogenkonsument:innen, für die Majid und Soraya arbeiten.
       „Nur so nimmt die Qualität der Produkte zu, nehmen die Kriminalität und das
       Elend ab.“
       
       Majid und Soraya laufen die paar hundert Meter von der Metrohaltestelle
       Porte de la Villette zum Camp. An Majids Rucksack hängt ein kleiner
       Lautsprecher, Aretha Franklin singt „Freedom“. „Die User:innen mögen das,
       wenn ich Musik anmache“, sagt der Streetworker, „die halten an und horchen.
       Versuchen zu erraten, welcher Song gerade läuft“.
       
       Von Edith Piaf über Cardy B bis hin zu ACDC – jede Tour hat ihr Musikgenre.
       Unter der Eisenbahnbrücke müssen Majid und Soraya durch, einmal rechts,
       dann kommt ihnen beißender Geruch nach Urin entgegen. Sie laufen den
       kleinen Weg hoch in den Park und werden gleich von allen Seiten
       angesprochen. Jede:r hier kennt sie, obwohl sie erst Ende August bei
       Charonne-Oppélia angefangen haben.
       
       Günstiger Stoff 
       
       „Das Vertrauen der User:innen ist uns sehr wichtig“, sagt Soraya. Sie
       verteilen medizinische Masken, Hygienetücher und sauberes Drogenbesteck,
       entweder Crack-Pfeifen oder Spritzen. Die Menschen hier würden Crack eher
       rauchen, meint sie, statt es zu spritzen. Crack wird aus Kokain und
       Backpulver hergestellt. Es ist deutlich günstiger als Heroin oder Kokain
       und macht sehr schnell süchtig. Ein Crack-Stein kostet etwa 15 Euro, sagt
       Majid, das bekäme man schnell zusammen.
       
       Von allen Seiten blitzen Feuerzeuge auf, weiße Steine wandern von einer
       Hand in die andere. Hagere Menschen vegetieren auf nacktem Boden oder auf
       schmutzigen Matratzen vor sich hin und ziehen an ihrer Pfeife. Wenn
       überhaupt Passanten vorbeikommen, schauen die allermeisten weg.
       
       Die Menschen, die in diesem Park-Dreieck leben und konsumieren, hätten alle
       unterschiedliche Biografien, meint Majid. Eine junge Frau trägt eine neue
       schwarze Lederjacke und runde John-Lennon-Brillen, andere haben nur Lumpen
       an. Der Boden ist übersät von Müll. Am Rande des Parks stehen etwa zehn
       Zelte aus blauer Plane, die sich die Menschen gebastelt haben, direkt
       dahinter die Stadtautobahn. In manchen Zelten liegen Matratzen auf dem
       Boden, vor anderen stehen Sofas. Hier und da sitzen Menschen um ein
       Lagerfeuer. Nathalie, die ihren kleinen Hund Oscar im Arm trägt, fragt
       Soraya nach Taschentüchern. „Das Klopapier ist mal wieder leer“, beschwert
       sie sich. Die Stadt hat Müllcontainer, Pissoirs, zwei Dixi-Klos und ein
       paar Wasserhähne installiert – für die 150 bis 200 Menschen, die sich hier
       aufhalten. Immerhin, meint Majid. Er kramt in seinem Rucksack und reicht
       Nathalie ein Safe-Crack-Set. Frauen gibt er immer Kondome dazu.
       
       In ganz Frankreich gibt es seit 2016 genau zwei Räume, einen in Straßburg,
       einen in Paris, wo Konsument:innen Crack sicher rauchen oder sich
       spritzen können. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 28.
       
       Zu wenige Konsumräume 
       
       Der Pariser Drogenkonsumraum befindet sich beim Bahnhof Gare du Nord,
       betrieben wird er vom Verein Gaïa. Ein einziger solcher Ort reiche in einer
       Millionenstadt wie Paris nicht aus, sagt Jamel Lazic, Co-Leiter des
       Konsumraumes. „Es müssten mindestens vier oder fünf sein, als erste
       Anlaufstelle für User:innen. Deshalb sollten sie in der Nähe der
       Drogenszenen liegen und an den lokalen Konsum angepasst sein.“ Nächstes
       Jahr läuft die Probephase des Projekts aus. Die Ergebnisse sind
       vielversprechend. Aber statt den Konsumraum langfristig im Viertel zu
       verankern, wurde die Probephase lediglich um weitere sechs Jahre
       verlängert.
       
       Im Camp drehen die Streetworker:innen Majid und Soraya weiter ihre Runde.
       Sie sprechen eine junge Frau an, die sie noch nicht kennen. Auf Majids
       Lautsprechern läuft Queens „I want to break free“, die Frau singt und tanzt
       mit der Musik. „Wir sind auch hier, um sie zum Lächeln zu bringen“, sagt
       Majid grinsend. Einem jungen Mann mit eitrigem Auge erklärt Majid, wo er
       sich Augentropfen holen kann. Majid und Soraya wollen die User:innen
       ermutigen, sich Hilfe zu holen. In der Anlaufstelle von Charonne-Oppélia
       können sie sich duschen, ausruhen und beraten lassen. Das sei schwer, denn
       viele würden sich für ihren Drogenkonsum schämen, bedauert Majid.
       
       Damit sich im Camp nicht zu große Müllmengen ansammeln, kommt an der Porte
       de la Villette alle zwei Tage früh morgens die Stadtreinigung mit
       Müllcontainer und Reinigungsmaschinen. Müll, Möbel, Kleidung, sogar die
       Zelte – alles was noch steht, wird abgerissen, was noch rumliegt,
       weggeschmissen. Alle müssen den Park verlassen und die Polizei verhindert,
       dass Menschen die Arbeit der Stadtreinigung stören. „Manchmal kommt die
       Reinigung auch unangekündigt“, kritisiert Majid, „sie wollen die Menschen
       hier ermüden.“
       
       Historisch hat es im Pariser Nordosten immer eine große Drogenszene
       gegeben. Vor weniger als einem Jahrzehnt wurden die letzten besetzten
       Häuser evakuiert und abgerissen. Der Nordosten wird gentrifiziert, in den
       Neubauten wohnt heute die Mittelschicht. Die User:innen halten sich dort
       aber nach wie vor auf der Straße auf. Nicht alle Anwohner:innen sind
       ihnen gegenüber wohlwollend eingestellt. Manche organisieren sich in
       Vereinen und skandieren „Weg mit den Crackies“. Denn die seien aggressiv,
       würden zum Dealen in Wohnhäuser eindringen und sich auf Spielplätzen
       aufhalten. Doch auch gegen weitere Drogenkonsumräume gibt es Proteste.
       
       Anwohner:innen haben Angst 
       
       „Ich bin den Umgang mit Drogenkonsument:innen gewöhnt“, meint
       Emmanuelle Sené von Charonne-Oppélia, „aber ich kann verstehen, dass die
       Anwohner:innen beunruhigt sind oder Angst haben.“
       
       Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) geht
       davon aus, dass der Konsum von Crack in Europa weiter steigen wird, weil
       der Zugang zu Kokain leichter geworden ist. Im Gegensatz zu anderen
       Opioiden wie Heroin gibt es für Crack aber bisher keine
       [3][Substitutionsbehandlung]. Aufgrund der Verdrängung aus den
       gentrifizierten Quartieren [4][und den wiederholten Lockdowns letztes Jahr]
       sind die Crack-Konsument:innen in Paris sichtbarer geworden. Sie seien aber
       nur die Spitze des Eisbergs, meint Jamel Lazic. [5][Anne Hidalgo, die
       sozialdemokratische Bürgermeisterin von Paris und Kandidatin für die
       französischen Präsidentschaftswahlen 2022], will die Anwohner:innen
       zufriedenstellen und gleichzeitig mehr Konsumräume schaffen. Im September
       besuchte sie das ehemalige Camp, sprach mit Anwohner:innen und
       Konsument:innen. Drei Tage später siedelte die Polizei das Camp auf den
       neuen Standort an der Porte de la Villette um. Dort wohnt niemand in der
       unmittelbaren Nachbarschaft. Dass Hidalgo sich für mehr Konsumräume
       einsetzt, befürwortet Lazic. Aber sie seien kein Wundermittel, „sie können
       das öffentliche Ärgernis reduzieren, ja, aber damit verschwinden die
       Personen nicht aus dem öffentlichen Raum“.
       
       „[6][Seit einem Jahr bereiten sich die Parteien auf die
       Präsidentschaftswahlen vor], machen wir uns nichts vor“, sagt Emmanuelle
       Sené von Charonne-Oppélia. „Mit der Verlegung der User:innen wollen sich
       die Behörden sozialen Frieden kaufen. Die Stadtverwaltung, der Staat, die
       Polizei, alle schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Ich möchte
       auch nicht wissen, wie sich die User:innen fühlen, wenn sie wie Vieh
       transportiert werden. Das ist doch heftig.“
       
       Die Polizei räumt in immer kürzeren Abständen. Inzwischen finden alle paar
       Monate Umsiedlungen statt, Métro Stalingrad, Jardins d’Éoles, Rue Crimée
       und jetzt Porte de la Villette. Über die letzte Räumung wurden die Vereine
       nicht informiert. „Die Leute hatten das Gefühl, dass wir sie im Stich
       gelassen haben. Sie meinten, wir hätten sie doch vorwarnen können“,
       bedauert Streetworkerin Soraya. „Für sie ist es sehr schwer, einen Ort zu
       verlassen, der ihnen vertraut ist.“
       
       19 Dec 2021
       
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