# taz.de -- Auszug aus dem Elternhaus: Radikal individual
       
       > In Schweden ziehen junge Erwachsene im Schnitt schon mit 17,5 Jahren aus,
       > in Kroatien erst mit 32,4. Das zeigen Daten des Mikrozensus.
       
 (IMG) Bild: Nichts wie weg: In Schweden üben die Kinder schon früh ihren Auszug von zu Hause
       
       Weil man es eben kann 
       
       „Ich fühle mich wohl hier“, berichtet Molly in der aktuellen Ausgabe der
       Monatszeitschrift Vi: „Meine beste Freundin wohnt in der Nachbarwohnung,
       zwei andere in Nachbarhäusern und Papa arbeitet in der Nähe.“ Molly ist 17
       Jahre alt, begann im August am Gymnasium des Nachbarorts das zweite Jahr
       einer dreijährigen Ausbildung und ist damals von zu Hause ausgezogen. Nicht
       weit weg, eine gute Viertelstunde mit dem Bus entfernt, aber sie wollte
       eine eigene Wohnung haben. Ihre Eltern fanden das gut, sie kannten das auch
       von sich selbst. Sie unterstützen sie finanziell, aber einen kleinen
       Nebenverdienst hat Molly: Putzen beim Nachbarn.
       
       Auf einen historisch begründeten „radikalen Individualismus“ führt der
       Geschichtsprofessor Lars Trägårdh das schwedische Streben zurück, sich so
       bald wie möglich von Eltern und Geschwistern zu emanzipieren. Die Basis sei
       im Mittelalter gelegt worden: Eine „uralte“ demokratische Tradition,
       selbständige Bauern, die in Schweden größere politische und soziale
       Freiheiten als in jedem anderen europäischem Land hatten und ein Adel der
       nirgends eine so untergeordnete Rolle spielte. Außerdem brauche man nur
       August Strindberg zu lesen: Das Freimachen von Familienbanden sein
       Dauerthema.
       
       Wenn sich zwischen den 1960er und 1980er Jahren die Zahl der
       Alleinhaushalte verdoppelte, dann vor allem weil der schwedische Staat die
       ökonomischen Voraussetzungen dafür schuf, dass man unabhängig von der
       Herkunft auf eigenen Beinen stehen konnte. Beispielsweise mit einem
       [1][großzügigem Studienfördersystem], das nicht vom Einkommen der Eltern
       abhängig war. Aber es war auch leicht, gutbezahlte kurzfristige Jobs zu
       finden. Man macht sich früh selbständig, weil man es eben kann. Und lässt
       sich dann Zeit: SchwedInnen ziehen am frühesten von zu Hause aus, heiraten
       aber spät – Frauen mit 35, Männer mit 37 Jahren – und legen das erste
       Universitätsexamen laut OECD später ab als sonstwo in Europa: im Schnitt
       mit 28,3 Jahren.
       
       In den letzten Jahren ist die Zahl der „Mambos“ – junge Erwachsene, die bei
       „Mama“ wohnen – gestiegen. Nur 70 Prozent der Jugendlichen mit
       Migrationshintergrund sind mit 24 Jahren schon von zu Hause ausgezogen.
       „Nicht weil sie es nicht wollen“, sagt der Soziologe Alireza Behtoui: „Aber
       was soll man machen, wenn man keinen Job und keine abgeschlossene
       Ausbildung hat? Es ist eine Klassenfrage.“
       
       „Sobald ich mit dem Gymnasium fertig bin, ziehe ich weiter weg“, plant
       Molly: „Ich würde aber wieder zurück nach Hause, wenn meine Eltern es
       wollen oder sie krank werden würden.“ Reinhard Wolff, Stockholm
       
       Einer kleinen Elite vorbehalten 
       
       Im Jahr 1900 schlugen kroatische Politiker Alarm. Das tun sie zwar immer,
       aber meistens, weil sie irgendwelchen vermeintlich Fremden (anderen
       Konfessionen, anderen Ethnien, anderen politischen Vorstellungen) das Label
       „Volksschädling“ anheften wollen, um von der eigenen Verantwortung für das
       Elend dieses Zwergenlandes abzulenken.
       
       1900 machten nationalistische Kreise jedoch einen inneren Feind aus: die
       Auswanderer. Die Abwanderung der eigenen Bevölkerung nahm damals Ausmaße
       an, die – nicht ganz unberechtigt – Endzeitprophetie und Versteppungsängste
       auslöste. Auch im Jahr 2021 schlagen kroatische Politiker und
       nationalistische Intellektuelle diese Töne an, weil es kaum noch einen
       Kroaten gibt, der das ganze Jahr über die Straße vor seinem Haus fegt.
       Nichts Neues also aus dem Land, aus dem man schon immer wegging: als
       Auswanderer nach Übersee, als Händler nach Wien, als Gastarbeiter nach
       Stuttgart oder als Kellner nach Dublin.
       
       Seit der brutal und blutig erkämpften Unabhängigkeit des Landes 1991 sinkt
       die Einwohnerzahl stetig und das drastisch. Wenn Sie mal außerhalb der
       Saison in [2][das Adriaparadies] kommen, sehen sie leergefegte Städte: die
       Kroaten und Kroatinnen (hier mit Unterstrichen oder Sternchen zu arbeiten,
       wäre eher falsch, da die Geschlechterfragen und -rollen in diesem Land
       immer noch recht konservativ sind) sind nämlich Saisonarbeiter: Im Winter
       arbeiten sie als Aushilfskräfte irgendwo im Ausland, im Sommer arbeiten sie
       als Aushilfskräfte irgendwo im Inland.
       
       Die Leute gehen damals wie heute weg, weil sie in „Unserer Schönen“
       (Hymnentitel Kroatiens) kaum halbwegs bezahlte Jobs kriegen, weil sich das
       Land von einer halb- bis komplett mafiösen Cliquen-, Clan- und
       Vetternwirtschaft ökonomisch massakrieren lässt und das Übrige die
       Wirtschaftspolitik der EU erledigt.
       
       Das Elternhaus verlässt man dementsprechend am liebsten gar nicht. Es ist
       nur einer kleinen Elite vorbehalten, sich abseits der elterlichen vier
       Wände eine eigene Wohnung zu finanzieren. Außerdem findet man Familie
       natürlich aus katholischen Gründen irre wichtig, insgeheim allerdings aus
       naheliegenden Gründen: den selbstgebrannten Schnaps von Papa und die
       selbstgewickelten Sarma mit Fleisch vom selbstgeschlachteten Schwein.
       
       Aber Hand aufs Herz: Glauben Sie keiner Statistik, die sie nicht selbst
       gefälscht haben, schon gar nicht, wenn sie aus Kroatien kommt. Ich meine,
       ein Land, das seine Einwohnerzahl mit gut 4 Millionen angibt, die
       Dunkelziffer aber nahe legt, das fast die Hälfte davon gar nicht im Land
       lebt und zu einem guten Teil (ca. 15%) nicht mal dort geboren sind (die
       Autorin ist selbst eine davon): wie aussagekräftig ist dessen Statistik
       über das Alter, in dem man in Kroatien das Elternhaus verlässt, wirklich?
       Doris Akrap
       
       3 Dec 2021
       
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