# taz.de -- Wohnungskrise in den Niederlanden: Aus dem Zelt zur Uni
       
       > Internationale Studierende werden gezielt angeworben, finden aber keinen
       > Raum zum Wohnen. Landesweit gehen Menschen deshalb auf die Straße.
       
 (IMG) Bild: „Stoppt die Vermietung von Häusern zu Wucherpreisen!“, fordern Demonstrierende in Amsterdam
       
       Rebekah wurde in ihrem Studierendenwohnheim sexuell belästigt, weshalb sie
       auszog und nun von Hotel zu Hotel wechseln muss. Rishi aus Mumbai lebt mit
       14 anderen Studierenden in Hostelzimmern und muss jede Woche sein Hostel
       wechseln, weil diese nur Wochenaufenthalte zulassen. Sarah aus Deutschland
       versuchte monatelang, eine Unterkunft in Amsterdam zu finden, und pendelte
       schließlich für drei Monate jeden Tag von einer Verwandten in Belgien nach
       Amsterdam.
       
       So lesen sich die Geschichten von Studierenden an der Vrije Universiteit
       Amsterdam. Zwischen 250 und 300 Studierende fanden hier im Sommer und
       Herbst 2021 keine Unterkunft.
       
       ## Studis werden vertröstet
       
       Die Niederlande erleben zurzeit eine der schwerwiegendsten
       [1][Wohnungskrisen] der letzten Jahrzehnte. Pieter van Rossum,
       Vizepräsident der Studierendengewerkschaft SRVU, erklärt: „Das Hauptproblem
       ist, dass die Universitäten nicht transparent kommunizieren.“ So würden
       internationale Studierende im Vorfeld überhaupt nicht über den schwierigen
       Wohnungsmarkt aufgeklärt, sondern auf Plattformen mit jahrelangen
       Wartelisten verwiesen. Dabei haben es gerade internationale Studierende
       ohne lokales Netzwerk ungleich schwerer, in den Niederlanden eine
       Unterkunft zu finden.
       
       Ende September organisierte SRVU unter dem Motto „NoRoomForUs“ eine
       Demonstration auf dem Campus der Vrije Universiteit, um auf die Notlage
       aufmerksam zu machen. Mit Erfolg, ein Verwaltungsrat der Universität kam.
       Jedoch riet er den Demonstrierenden, „nach Hause“ zu gehen, die Universität
       würde sich um das Problem schon kümmern.
       
       Salma Bel Lahdab, Politikwissenschaftsstudentin und Mitorganisatorin des
       Protests, ist enttäuscht: „Wohin soll ich denn nach Hause gehen? Es ist
       nicht einfach, wenn der Kopf den ganzen Tag daran denken muss, wo man noch
       nach einer Wohnung gucken könnte.“ Ohne wirkliches Zuhause bleibe kein
       Platz im Kopf für normales Leben, Privatleben sei wie ausgeschaltet: „Das
       ist physische Anstrengung, und selbstverständlich beeinflusst das auch
       meine Leistungen im Studium negativ“, erklärt sie. Die Universität war auch
       nach wiederholter Aufforderung nicht für eine Stellungnahme zu erreichen.
       
       Auch im nordniederländischen Groningen, einer beschaulichen
       Universitätsstadt mit knapp 200.000 Einwohner*innen, sieht die Lage Anfang
       des Wintersemesters 2021/22 düster aus: Über 600 Studierende finden am
       Höhepunkt der Krise keine Wohnung oder sind auf Couchsurfing, stundenlanges
       Pendeln oder wöchentliches Hostelwechseln angewiesen. Dort fingen die
       Studierendengewerkschaften an, Couchsurfing-Plattformen aufzubauen, um
       diesen gestrandeten Studierenden wenigstens eine temporäre Unterkunft
       anzubieten – auch weil eine Reaktion der Universität von Groningen
       ausblieb. Einige Studierende starteten sogar Petitionen mit dem Ziel,
       wieder den Online-Unterricht einzuführen, weil sie so von ihren Heimatorten
       teilnehmen könnten.
       
       ## Unis werden internationaler
       
       Das unabhängige Wissenszentrum Kences, welches Daten zu studentischem und
       sozialem Wohnen erhebt, hat Anfang Oktober eine neue Studie vorgestellt:
       Der Mangel an Wohnungen für Studierende hat sich innerhalb des letzten
       Jahres um schätzungsweise 4.500 erhöht und liegt nun bei 26.500 Wohnungen.
       Der Report macht den immer stärker werdenden Zustrom internationaler
       Studierender als Hauptursache der unproportional steigenden Zahl der
       Studierenden verantwortlich.
       
       Weil durch den [2][Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union]
       auch die britischen Universitäten nicht mehr so leicht zugänglich sind, hat
       die Popularität der niederländischen Studiengänge international massiv
       zugenommen. Die Niederlande sind das Land mit den meisten
       englischsprachigen Bachelor-Studiengängen in der Europäischen Union.
       
       Dieser Trend wird von den niederländischen Universitäten stark unterstützt,
       die die Internationalisierung ihrer Programme vorantreiben. In besonderem
       Maße tut das die Vrije Universiteit Amsterdam. In den letzten zwanzig
       Jahren hat sich die Anzahl Studierender dort auf fast 30.000 verdoppelt.
       Ehemals niederländische Programme werden internationalisiert und neue,
       innovativ klingende, englischsprachige Programme zum Curriculum
       hinzugefügt.
       
       Diese Expansionsagenda liegt zum einen daran, dass in den Niederlanden die
       Universitäten ihren Anteil an staatlicher Unterstützung proportional zu
       ihrem Anteil an allen in den Niederlanden immatrikulierten Studierenden
       erhalten. Die Konsequenz ist, dass sich die Universitäten in einem
       ständigen Konkurrenzkampf miteinander befinden, angetrieben von der Angst,
       dass andere mehr Studierende anlocken und dadurch mehr Gelder erhalten
       könnten. Und weil die niederländischen Regierungen der letzten Jahrzehnte
       konsequent das Budget für höhere Bildung zusammenstrichen, versucht jede
       Universität umso mehr an mehr Gelder zu kommen.
       
       Zum anderen [3][bezahlen Nicht-EU-Studierende deutlich mehr Gebühren pro
       Jahr] als EU-Bürger*innen – auch ein Grund, warum Universitäten gerne
       Studierende aus der ganzen Welt anlocken. Und da Studierende grundsätzlich
       nicht aufgrund ihrer Nationalität abgelehnt werden dürfen, wächst der
       Korpus Studierender stetig weiter an.
       
       Die Agenda wird von einer Politik unterstützt, die darauf erpicht ist, nach
       akademischer Brillanz zu streben. Mit Erfolg: Seit Jahren rangieren
       niederländische Universitäten auf Topplätzen in europäischen Rankings. Die
       Diskrepanz zwischen dieser Tatsache und dem fahrlässigen Umgang mit
       internationalen Studierenden durch Universitäten und Politik ist
       offensichtlich.
       
       Auf dem offenen Wohnungsmarkt lauern noch weitere Tücken. Häufig verlangen
       Vermieter*innen als Mindesteinkommen für Studierende utopische Summen
       oder lehnen Studierende generell ab. Zudem werden Wohnungen oft nur an
       Niederländer*innen vergeben.
       
       ## Zelten im Stadtpark
       
       Mittlerweile hat die Vrije Universiteit Amsterdam reagiert und den meisten
       der 230 obdachlosen Studierenden eine temporäre Unterkunft organisiert.
       Doch ausreichend sind diese Unterkünfte immer noch nicht; es sind entweder
       Zelte in Amsterdamse Bos, dem größten Stadtpark Amsterdams, oder
       überteuerte Hostelzimmer. Auch in Groningen hat sich die Situation
       inzwischen beruhigt. Unklar ist aber nach wie vor, was nächsten Sommer
       passieren wird, wenn erneut mehr internationale Studierende in die
       Niederlande kommen werden. Für die nächste niederländische Regierung wird
       die Wohnungskrise zu einer der höchsten Prioritäten gehören.
       
       5 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
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