# taz.de -- Auftakt der Sommerspiele in Tokio: Willkommen in Dystopia
       
       > Die olympischen Spiele sind traditionell Symbol für Vielfalt und
       > Völkerverbindung. Doch bei den Coronaspielen von Tokio bleibt davon wenig
       > übrig.
       
 (IMG) Bild: Auf der Suche nach dem Feeling: Beachvolleyball-Olympiasiegerin Laura Ludwig vor den Ringen
       
       Es ist ein Ritus, dass sich die jeweils amtierenden Präsidenten des
       Internationalen Olympischen Komitees am Ende der Spiele zu einer
       freundlichen Schummelei hinreißen lassen. Sie hätten das beste Olympia
       gesehen, das es jemals gegeben habe, sagen sie regelmäßig, und sie rücken
       auch nicht von ihrer fabelhaften Legende ab, wenn es in den zurückliegenden
       zwei Wochen ernsthafte Zwischenfälle und Missstimmungen in der olympischen
       Gesellschaft gegeben hat.
       
       Trotz seines Großtalents zum Schönreden dürfte es IOC-Chef Thomas Bach aber
       dieses Mal extrem schwerfallen, den Sommerspielen von Tokio den Stempel der
       Exklusivität aufzudrücken. Exklusiv sind diese Coronaspiele nur in einem:
       in ihrer dystopischen Anmutung. [1][Thomas Bach] könnte auf der
       Schlussfeier vielleicht diesen, auch nur halb wahren Satz in ein leeres
       Olympiastadion hineinsprechen: „Allen widrigen Umständen zum Trotz haben
       wir doch ganz ordentliche Sommerspiele gesehen.“ Mehr ist nicht drin. Oder?
       
       Diese Spiele, die wegen Corona um ein Jahr verschoben worden sind – aber im
       Signet immer noch das Jahr 2020 tragen, als handele es sich um ein Relikt
       aus der Vergangenheit, das man in einer absurden Kraftanstrengung ins Hier
       und Heute zerrt –, haben sich in einem Möbiusband widerstreitender
       Interessen verfangen. Das IOC wollte der Sportwelt olympische Unterhaltung
       bieten, seinen Sponsoren eine Plattform und den Fernsehanstalten schöne
       Bilder zum Versenden in die Welt, nebenbei hätten sie sich gern – ähnlich
       der Uefa – inszeniert als Regisseure einer postcoronistischen Normalität.
       
       Die Athleten wollten nach Monaten im Wartestand endlich zeigen, was sie
       draufhaben, sie sind schließlich die Protagonisten in diesem zirzensischen
       Spiel und waren zu erheblichen Zugeständnissen bereit, um nur endlich
       „performen“ zu können. Japan wiederum schien dieses Event abhaken zu wollen
       wie eine lästige Pflicht – getreu dem Motto: Lasst es uns in
       Dreigottesnamen hinter uns bringen. Doch so einfach ließ sich dieser fromme
       Wunsch nicht umsetzen, denn die japanische Öffentlichkeit stellte sich
       quer. Sie entwickelte beim Gedanken, dass Millionen fremde Menschen aus
       allen Teilen der Welt die Insel entern und womöglich mit ihrem
       unberechenbaren Laisser-faire einen bunten Strauß an Virusvarianten ins
       Land tragen, eine regelrechte Paranoia.
       
       ## Marathonlauf der Zugeständnisse
       
       Japanische Medien ermittelten in der Bevölkerung immer höhere Werte von
       Skepsis. Zuletzt lehnten an die 80 Prozent der Japaner die Olympischen
       Spiele ab, und mit ihrer Angst vor viraler Überflutung trieben sie alle
       Akteure vor sich her: die japanische Politik, das Organisationskomitee von
       Tokio und nicht zuletzt das Internationale Olympische Komitee, das sich auf
       einen Marathonlauf der Zugeständnisse einlassen musste, notgedrungen. Die
       Schraube der Vorsichtsmaßnahmen wurde immer stärker angezogen: Zunächst
       wurde Olympiafans aus aller Welt die Einreise verwehrt, dann musste auch
       die sogenannte olympische Familie ihre Reisekontingente rigide
       zusammenstreichen.
       
       Die Botschaft: Bleibt, wo ihr seid, wir wollen euch potenzielle Gefährder
       und Superspreader nicht hier haben, Olympia hin oder her. Wer dennoch in
       diesen Tagen ins Land kommt, muss sich einer Gesundheits- und
       Bewegungsüberwachung ergeben, die ihresgleichen sucht. [2][Die Journalisten
       bewegen sich unter höchsten Sicherheitsauflagen in einer „Bubble“], sind
       „embedded“, und selbst japanische Zuschauer dürfen nun nicht in die Stadien
       und Arenen, wohl um den Anschein einer Vorzugsbehandlung zu vermeiden.
       
       Die Olympischen Spiele drohen unter dem Diktat der Prävention radikal ihren
       Reiz und ihren Charme zu verlieren. Die Ränge bleiben leer, viele Herzen
       kühl, und die Kameraleute müssen wohl kleine Wunder vollbringen, um die
       deprimierende Atmosphäre zu kaschieren. Den Schritt, den die Uefa gegen den
       Rat der Mahner zu gehen wagte, nämlich Stadien mit bis zu 60.000 Menschen
       zu füllen, geht Tokio nicht. Im Gegenteil: Sie haben einen Safe Space
       designt, der vielleicht ins Jahr 2020 passt, aber nicht mehr in eine Zeit,
       in der wir so viel mehr wissen über dieses Virus, seine Gefährlichkeit und
       Verbreitungsmöglichkeiten.
       
       Wie ist das zu erklären? Vielleicht damit, dass Japan ein Land
       technologischer Lösungen ist. Tokio liegt nicht zufällig [3][im Safe Cities
       Index der sichersten Metropolen auf Platz eins]. Wie man scheinbar
       übermächtigen Gefahren trotz, zeigt der beispielhafte Bau von
       erdbebensicheren Hochhäusern, die den fast tausend jährlichen Beben in der
       Präfektur Tokio trotzen. Der Hochwasserschutz ist ebenso mustergültig wie
       die Gesundheitsvorsorge.
       
       Die Japaner haben schon vor Corona bei kleinsten Anzeichen einer Erkältung
       eine Gesichtsmaske getragen, um vornehmlich die anderen vor Keimen zu
       schützen. Sie vertrauen sich und ihrem System, sie misstrauen freilich
       nicht selten dem System der anderen, und das führt jetzt, da sich die Welt
       anschickte, Japan in einen bunten Jahrmarkt zu verwandeln, zu einem
       Olympia, das seinen Wesenskern verliert.
       
       Es sind ja insbesondere die herzerwärmenden Geschichten von Sportlerinnen
       aus Uganda, die in der Kantine des olympischen Dorfes auf den Star des
       Basketball-Dream-Teams treffen, die Storys vom Volunteer aus Vietnam, der
       seinen kleinen Traum von Olympia am Schießstand oder im Segelrevier
       auslebt. Vielleicht ergeben sich im Lauf der Zeit, also je länger die
       Spiele dauern, diese Begegnungen, vielleicht entwickelt sich doch ein Sog,
       der die Sommerspiele hier und da unwiderstehlich macht.
       
       Aber was bleibt schon von der alten Wirkmächtigkeit der Spiele, [4][wenn
       selbst die japanischen Großsponsoren Toyota und Panasonic abrücken] von
       Olympia, als sei es ein kontaminiertes Etwas, ein Igitt-Event, in dessen
       Corona man lieber nicht werblich aufscheinen möchte, weil das einem die
       japanische Öffentlichkeit übel nehmen könnte. Wenn sogar die Unternehmen,
       die sich einst rangelten um die olympischen Ringe, Reißaus nehmen, dann ist
       es schlecht bestellt um die Spiele in ihrer aseptischen Tokioter Version.
       
       Sie verkommen zum schnöden Verwaltungsakt des Amts für olympische
       Bilderproduktion. Sie werden für Olympiafreunde der alten Schule zu einer
       Zumutung.
       
       22 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Bach
 (DIR) [2] /Coronaregeln-bei-Olympia-in-Tokio/!5781915
 (DIR) [3] https://safecities.economist.com/safe-cities-index-2019/
 (DIR) [4] /Sponsorenrueckzug-von-Olympia/!5781634
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Markus Völker
       
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