# taz.de -- Vor der Parlamentswahl in Armenien: Die Wahl nach dem Krieg
       
       > Anja Martirosjan lebt von 60 Euro im Monat und wohnt in einem Container.
       > Von der Politik erwartet sie nicht mehr viel – auch nicht von der Wahl.
       
       Drei klein gewachsene Frauen in großen Gummistiefeln kommen nacheinander
       aus einem Stall heraus. Sie gehen etwas gebückt, so schwer sind die Eimer,
       die mit frischem Kuhmist gefüllt sind. Eine nach der anderen kippt ihre
       Eimer in einer Ecke aus, damit der Kuhdung in der Sonne trocknen kann. Dann
       laufen sie wieder in den Stall hinein – so geht das mehrere Stunden lang.
       
       In dem armenischen Dorf Jajur ist diese Arbeit überlebenswichtig, wenn man
       nicht im Winter erfrieren will. Denn die kalte Jahreszeit ist hier, im
       Norden der Südkaukasusrepublik, besonders hart. Fast in jedem Hof ist
       Kuhmist meterhoch zu Pyramiden aufgeschichtet. Etwas weniger als 1.000
       Menschen leben in Jajur, wo es nicht einmal eine Gasleitung gibt. Auch
       Hoffnung auf eine bessere Zukunft gibt es nicht, wenn die
       Armenier*innen am kommenden Sonntag dazu aufgerufen sind, ein neues
       Parlament zu wählen.
       
       Anja Martirosjan steht mit ihrer Tochter und ihren zwei Enkelinnen an der
       einzigen Straße im Dorf, alle schauen ständig nach links. Der Bus verspätet
       sich – wieder einmal. Dann kommt er doch noch. Es ist der letzte, der heute
       ins knapp 17 Kilometer entfernte Gjumri, die zweitgrößte Stadt Armeniens,
       fährt. „Erdbeeren aus Omas Garten schmecken am besten“, sagen die beiden
       Mädchen und lächeln, während ihre Mutter dem Busfahrer ein Handzeichen
       gibt. Alle steigen ein. Nur die Großmutter bleibt zurück.
       
       Martirosjan ist 70 Jahre alt. Sie trägt einen blauen Morgenrock, der eher
       an einen Bademantel erinnert. Das ist die typische Kleidung vieler älterer
       Frauen hier im Dorf. Sie vergräbt ihre Hände in den Manteltaschen und geht
       langsam nach Hause zurück. Sie selbst hat kein Vieh. Um ihre kleine
       Behausung zu heizen, kauft sie daher getrockneten Kuhdung bei den Nachbarn.
       Dafür muss sie einen großen Teil ihrer monatlichen Rente ausgeben, die
       umgerechnet rund 60 Euro beträgt.
       
       ## Leben im Container- seit 33 Jahren
       
       Martirosjan wohnt in einem Container. Am 7. Dezember 1988 erschütterte als
       ein heftiges [1][Erdbeben] der Stärke 6,9 den Norden Armeniens. Mindestens
       25.000 Menschen starben. Martirosjan hat das Erdbeben überlebt und wohnt
       seitdem in diesem Container. 33 Jahre habe sie nur Versprechen von den
       Politikern gehört, doch aus ihrem Container sei sie bis heute nicht heraus
       gekommen. Sie habe ihre Hoffnungen auf eine neue Unterkunft schon lange
       begraben, sagt sie.
       
       An eine Seite des Containers schmiegt sich eine Mauer aus Stein, die sie
       selbst errichtet hat. In den Container gelangt kaum Tageslicht. An Wänden
       und Decken hat der Regen großen Wasserflecken hinterlassen. Es gibt kaum
       Platz, um sich zu bewegen. Dafür sind aber vier Betten, in jeder Ecke eins,
       aufgestellt – für den Fall, dass ihre Enkelinnen doch einmal den letzten
       Bus verpassen. Oder dass der nicht kommt.
       
       „Das war mein Haus“, sagt sie und deutet auf Steinreste einer Ruine vor dem
       Container. Ihren Mann hat sie schon vor 40 Jahren verloren. „Die
       Gartenarbeit hält mich am Leben“, sagt sie. Auf ihrer Parzelle zieht sie
       Kartoffeln, Bohnen und verschiedene Kräuter, daneben steht ein prächtiger
       Walnussbaum. Martirosjan hat ein Plumpsklo und eine weiße Katze, die sich
       ständig vor ihre Füße legt. Sie hat auch einen Sohn, den sie sehr vermisst.
       Er ist mit seiner Familie nach Russland gegangen – erst, um als
       Saisonarbeiter auf einer Baustelle zu arbeiten, dann für immer.
       
       „Zumindest ist er am Leben“, sagt sie. Zwei junge Männer aus ihrer
       Nachbarschaft, erzählt sie, befänden sich seit dem [2][jüngsten Krieg]
       zwischen Armenien und Aserbaidschan in Baku in Kriegsgefangenschaft.
       Genaues wisse niemand, aber das ganze Dorf trauere.
       
       Geht sie am Sonntag zur Wahl? Martirosjan überlegt kurz, dann sagt sie:
       „Ich werde demjenigen meine Stimme geben, der unsere Söhne aus
       Aserbaidschan zurückbringt.“ Dann richtet sie den Blick gen Himmel. Es
       wirkt, als wolle sie von dort oben Absolution erbitten.
       
       Das Versprechen, das Schicksal vermisster armenischer Soldaten aufzuklären
       und diese nach Hause zu holen, haben sich in diesem Wahlkampf Politiker
       fast aller Parteien auf die Fahnen geschrieben. Denn solche Zusagen könnten
       Stimmen bringen. Mehr als 250 Familien sind immer noch auf der Suche nach
       ihren Vätern und Söhnen und im Unklaren darüber, ob diese in Gefangenschaft
       oder längst tot sind. [3][Nikol Paschinjan], bis zum vergangenen April
       Regierungschef, bietet sogar seinen eigenen Sohn im Tausch gegen einen
       Gefangenen an. Ob das verfängt, ist fraglich. Denn seit der Niederlage
       Armeniens im Krieg gegen Aserbaidschan im vergangenen Herbst ist Paschinjan
       für viele Armenier*innen zum Verräter schlechthin geworden.
       
       ## Nikol Paschinjan, vom Held zum Verräter
       
       Erst drei Jahre ist es her, dass Panschinjan, der für die Opposition im
       Parlament sitzt, im ganzen Land enthusiastisch als Held gefeiert wurde. Als
       im Frühjahr Hunderttausende wochenlang gegen die korrupte Machtelite auf
       die Straße gehen, schlägt seine Stunde: Kurzerhand setzt sich Paschinjan
       an die Spitze der Bewegung, die er „Mein Schritt“ nennt. Der Name ist
       Programm: 14 Tage lang läuft er durch den Norden Armeniens. Auf seinem Weg
       bis in die Hauptstadt Jerewan kommen er und seine Anhänger*innen, die immer
       mehr werden, auch durch Jajur. Dort schlagen sie in der Nähe eines Feldes
       ihre Zelte auf.
       
       Seine Aktion können die Armenier*innen quasi live auf Facebook
       mitverfolgen. „25.293 Schritte haben wir schon für die Revolution gemacht“,
       postet er einmal. Gemeint ist die sogenannte Samtene Revolution, die zum
       Sturz der Regierung führt und Paschinjan schließlich an die Macht bringt.
       Revolution? Martirosjan in ihrem Container im Dorf Jajur hat schon damals
       nicht daran geglaubt, und heute tut sie das erst recht nicht. Die Frage, ob
       sich für sie etwas zum Besseren verändert habe, quittiert sie mit
       Schweigen. Doch der traurige Ausdruck ihres von tiefen Falten zerfurchten
       Gesichts sagt alles.
       
       Und doch: Allen Unzufriedenheiten, Enttäuschungen und Anfeindungen zum
       Trotz will Nikol Paschinjan mit Unterstützung seiner Partei „Zivilvertrag“
       erneut Premierminister werden. Ob im Fernsehen oder auf den Kanälen der
       sozialen Medien – die Auftritte Paschinjans laufen dieser Tage in einer
       Dauerschleife. Er schreit sich die Kehle aus dem Hals – so laut, dass die
       Menschen in seiner Nähe Gefahr laufen, einen Hörsturz zu erleiden. Mit
       seinen emotionalen Ausbrüchen will er seine Ehrlichkeit, Männlichkeit und
       seine Entschlossenheit demonstrieren. „Euch werde ich es besorgen“, brüllt
       er – eine Botschaft an seine politischen Gegner, die keinen Zweifel daran
       lässt, dass er auf Rache sinnt.
       
       Nikol Paschinjan ist wieder auf Tournee, auch im Norden des Landes. Anzug
       und Hemd hat er gegen Jeans und ein T-Shirt getauscht. Auf dem Kopf trägt
       er eine Baseballkappe. Haare und Bart hat er sich wachsen lassen – schon
       2018 seine Markenzeichen. Es geht darum, bei den Menschen in der Provinz
       verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen – in ihn, der doch einer der Ihren
       ist.
       
       „Trink, mein Guter, trink!“, rufen Männer und schenken ihm Kognak ein. Sie
       lassen ihn nicht gehen, solange er sein Glas mit dem armenischen
       „Nationalgetränk“ nicht geleert hat. In einem anderen Dorf küsst er Kinder,
       die immer wieder rufen: „Nikol, Nikol, Premierminister!“
       
       ## Frisch ausgehobene Gräber
       
       An der Strecke von Jajur nach Gjumri liegen mehrere kleine Dörfer. Und ein
       Friedhof, der sich an dem breiten Hang eines Berges entlangzieht und kein
       Ende zu nehmen scheint. Grabsteine aus Basalt, in allen erdenklichen
       Formen, mal liegend, mal stehend. Die Größe der einzelnen Grabstellen gibt
       Auskunft über den sozialen Status des oder der Verstorbenen. Und immer
       wieder finden sich hier die für Armenien so typischen Kreuzsteine – jeder
       für sich ein kleines, ganz individuelles Kunstwerk.
       
       Einige Dutzend Gräber, gerade erst ausgehoben, erstrecken sich bis zur
       Einmündung der Straße. Blumenkränze, so weit das Auge reicht. Jeder Hügel
       ist mit dem gerahmten Bild eines jungen Soldaten geschmückt. In allen
       Gräbern stecken meterhohe Säulen, an deren Spitzen rot-blau-orange
       armenische Fahnen flattern. Männer, Frauen und Kinder zünden Weihrauch für
       ihre Brüder und Söhne an, die im jüngsten Krieg um die Region Bergkarabach
       gefallen sind.
       
       „Hier hätten wir auch ein Loch für Nikol Paschinjan graben sollen“, sagt
       ein Mann mit Verbitterung in der Stimme und zerreibt den groben Weihrauch
       zwischen seinen Fingern. Zorn blitzt in seinen Augen auf, seine Bewegungen
       sind hektisch und aggressiv. Immer wieder halten Autos auf der Straße vor
       dem Friedhof an.
       
       Gjumri, einst nach dem Revolutionsführer Lenin Leninakan genannt, hat etwa
       120.000 Einwohner. Hier sind 5.000 russische Soldaten stationiert –
       Russlands einzige Militärbasis im Südkaukasus. Das Zusammenleben mit der
       einheimischen Bevölkerung ist nicht konfliktfrei. 2015 verlässt ein
       20-jähriger russischer Soldat nachts unbemerkt die Kaserne und dringt in
       das Haus einer armenischen Familie ein. Er schießt wahllos um sich und
       tötet sechs Menschen. Das jüngste Kind, ein zweijähriger Junge, erliegt
       kurz darauf seinen schweren Verletzungen. Als sein offener Sarg durch die
       Straßen getragen wird, kommt es zu spontanen Protestkundgebungen. Es dauert
       mehrere Tage, bis sich die Lage wieder beruhigt.
       
       Trotzdem haben sich Bewohner*innen ihren Humor bewahrt. Gjumri ist die
       Stadt der Anekdoten und hat viele Komiker hervorgebracht. Ein besonderer
       Dialekt, der nur hier gesprochen wird, sorgt regelmäßig für Heiterkeit und
       Spott in anderen Teilen des Landes. Viele der bekanntesten armenischen
       Dichter und Musiker stammen ebenfalls aus Gjumri.
       
       ## Albert Vardanjan, der Künstler
       
       Am Stadtrand, in der kleinen Ortschaft Akhurjan, wohnt Albert Vardanjan,
       einer der renommiertesten Künstler des Landes. Unter seinen Händen
       entstehen aus Bronze Meisterwerke der Kunst. Das Haus, in dem der
       67-jährige Bildhauer mit seiner Frau, den beiden Söhnen, die auch Künstler
       sind, sowie einer Schwiegertochter lebt und arbeitet, hat er selbst gebaut.
       
       Vardanjan kommt langsam die Treppe hinunter. Er wirft einen Blick durch das
       Fenster in den Hof des Gartens, wo Aprikosenbäume kurz vor der Ernte
       stehen. Dann nimmt er in einem Sessel Platz. Vardanjan trägt ein kariertes
       Hemd. Sein grauer Vollbart wirkt ungepflegt. Er habe seit Neuestem ein
       Zittern seiner linken Hand bemerkt, aber das vergehe bestimmt bald wieder.
       „Ist wohl vom Stress“, sagt er. Er ist gerade aufgewacht, seine Frau kocht
       ihm Kaffee.
       
       Vardanjan spricht langsam. Er macht sich viele Sorgen um die Heimat. „So
       viele Jahre suchen wir schon nach Gerechtigkeit, aber wir finden sie
       nicht“, sagt er und macht eine lange Pause. „Wo ist das Licht der Erlösung,
       welches ist der Weg, der aus dieser schwierigen Situation herausführt?“,
       fragt er.
       
       Vardanjan geht zu der Tür, hinter der sich seine Werkstatt befindet. Dann
       betritt er sein Reich und versucht ein kleines, aber schweres Modell zu
       bewegen. Sein jüngerer Sohn hilft ihm dabei, er schweigt, wenn der Vater
       spricht. Das Modell ist aus Ton gefertigt und einen halben Meter hoch. An
       der rechten Seite ist spezielles Material angebracht, in dem sich die
       Gesichter der Betrachter*innen spiegeln. Die linke Seite
       versinnbildlicht Gewalt. Es sieht wie ein Blitzlichtgewitter aus – mit
       Spuren von Gittern, Schwertern, Autos und Panzern.
       
       Ein politisches Kunstwerk, sagt Vardanjan. Es symbolisiere einen
       „Zusammenstoß der Kräfte“ und sei den Ereignissen am 1. März 2008 gewidmet.
       Nach der Präsidentschaftswahl an diesem Tag gehen Tausende gegen angebliche
       Fälschungen auf die Straße. Der scheidende Präsident Robert Kotscharjan
       lässt die Proteste von Sicherheitskräften brutal niederschlagen. Zehn
       Menschen kommen ums Leben und Kocharjan Jahre später, nach einer
       entsprechenden Anklage, in Untersuchungshaft. Paschinjan, der damals die
       Demonstranten anführt, wird ein versuchter Umsturz der verfassungsmäßigen
       Ordnung in Armenien vorgeworfen. Er kommt für zwei Jahre in Haft.
       
       Vardanjan schließt nicht aus, dass es auch nach der Wahl am 20. Juni wieder
       zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen kommen könnte. „Denn wieder
       stehen sich dieselben Politiker gegenüber. Und ihnen geht es einzig und
       allein um ihre persönliche Macht“, sagt er. Damit ist auch Robert
       Kotscharjan gemeint. Er tritt als Spitzenkandidat des Bündnisses „Armenien“
       an. Und Kotscharjan macht kein Hehl daraus, dass er mit seinen
       Widersachern, allen voran Paschinjan, abrechnen will.
       
       Für seine politische Installation – fünf Meter breit und drei Meter hoch –
       hat Vardanjan bereits einen Platz gefunden: In Jerewan, am Rand eines Parks
       unweit des zentralen Republikplatzes. Doch seine Arbeit kommt nicht voran,
       denn die Finanzierung, die er bei einer Ausschreibung der Hauptstadt
       gewonnen hat, bleibt aus. Vardanjan hat dafür Verständnis. „Der Staat hat
       große Ausgaben. Das sind all die Verluste, die der Krieg um Bergkarabach
       mit sich bringt“, sagt er.
       
       Er wird am Sonntag trotzdem wählen gehen und er hat seine Entscheidung
       bereits getroffen: Für Paschinjan. „Ich glaube immer noch daran, dass ein
       Generationswechsel möglich ist. Die alte Garde wurde gestürzt, und diese
       schlechten Zeiten dürfen nicht zurückkommen“, sagt er. Falls doch, kann er
       sich sicher sein: Sein Kunstwerk, als ein Appell gegen Gewalt, wird seine
       Werkstatt so bald nicht verlassen.
       
       17 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
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