# taz.de -- Zuchtprogramm bei Berlins Eisbären: Vertauscht nach Geburt
       
       > Berlins Tierpark war so stolz auf das Eisbärbaby Hertha. Nun stellt sich
       > heraus: Die Eltern waren Geschwister. Die Mutter war 2011 vertauscht
       > worden.
       
 (IMG) Bild: Da war Hertha noch jung und wusste nichts von der bösen Welt: Bild vom Februar 2019
       
       Berlin taz | Man muss nicht Tolstoi zitieren um zu erkennen, dass die
       besten Geschichten von Familien handeln. Aber man kann: „Alle glücklichen
       Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene
       Art unglücklich.“ So beginnt Anna Karenina; auf den folgenden vielen
       Hundert Seiten geht es um Ehe und Moral, Leidenschaft und Unerwartetes. Und
       am Ende endet es tragisch.
       
       Könnte [1][Hertha, die junge Eisbärin aus dem Berliner Tierpark,] lesen,
       sie dürfte sich in diesem weltberühmten Romananfang wiedererkennen. Gerade
       war noch alles in Ordnung, dann ist alles anders und die Gegenwart nicht
       mehr allein ungetrübtes Herumtollen vor Publikum in ihrem Gehege. Denn ihre
       Mutter Tonja ist nicht die, von der man glaubte, dass sie es ist. Tonja,
       auf die Welt gekommen 2009 in einem Moskauer Zoo, wurde kurz nach ihrer
       Geburt mit einem zwei Tage älteren Eisbärbaby vertauscht.
       
       Aufgefallen ist das lange niemandem, weil, so Berlins Zoochef Andreas
       Knieriem, Eisbärkinder sich äußerlich nicht unterscheiden. So kam Tonja im
       Januar 2011 nach Berlin, brachte mehrfach Junge zur Welt, und das letzte
       Kind überlebte schließlich auch. Die Verwechslung kam ans Licht, weil eine
       Mitarbeiterin des Moskauer Zoos 2020 Ungereimtheiten in den Dokumenten
       entdeckte. Eine Genanalyse, die der Tierpark [2][am Dienstag öffentlich
       machte], brachte Gewissheit.
       
       An sich wäre das kein Drama: Für Hertha macht die neue Identität der Mutter
       offenbar keinen Unterschied. Aber dies hier ist eine Familiengeschichte,
       und deswegen folgt der unweigerliche Twist in der Handlung.
       
       Denn wärend bei Anna Karenina die Leidenschaft für die amourösen
       Verwechslungen sorgt, ist das bei Zooeisbären der Mensch, beziehungsweise
       das [3][Europäische Erhaltungszuchtprogramm für Eisbären,] leidenschaftslos
       EEP genannt. Gemeinsam mit diesem hat der Berliner Tierpark jenes Männchen
       ausgesucht, das Herthas Vater werden sollte: Wolodja, geboren 2011
       ebenfalls in Moskau. Die Auswahl orientiert sich an der Abstammung;
       angestrebt wird ein möglichst breiter Genpool.
       
       Dummerweise ist Wolodja Tonjas Bruder; beide haben die gleichen Eltern.
       Wäre Tonjas wahre Herkunft bekannt gewesen, man hätte Wolodja nicht auf sie
       losgelassen.
       
       ## „Mehr als ärgerlich“
       
       Diese einmalige Inzucht sei zwar „mehr als ärgerlich, da sie alles
       konterkariert, was wir bei der Zucht umsetzen wollen“, sagte Andreas
       Knieriem am Dienstag, aber auch kein Drama. Für die Gesundheit von Hertha
       habe sie keine Auswirkungen. „In einer Generation Inzucht zu haben, hat
       praktisch keine Folgen“, erklärte auch Achim Gruber, Tierpathologe von der
       Freien Universität Berlin, der mit Zoo und Tierpark seit langen
       zusammenarbeitet. „Das Risiko von gesundheitlich nachteiligen Folgen ist
       gleich null.“
       
       Dass sie ein Grund sein könnte, weshalb frühere Kinder von Tonja jung
       gestorben seien, sei deswegen mit „hoher Wahrscheinlichkeit
       auszuschließen“, heißt es in einer Mitteilung des Tierparks. Bedrohlich
       würde Inzucht laut Knieriem erst, wenn sie über viele Generationen
       passiere, wie etwa bei der Züchtung vieler Haustiere, vor allem bei Hunden,
       so der Tierparkchef.
       
       ## Scharfe Kritik von Tierschützer*innen
       
       Tierschützer*innen reagierten empört und sahen jahrealte Befürchtungen
       bestätigt. Bereits bei der Ankunft von Eisbär Wolodja in der Hauptstadt im
       Jahr 2013 habe es Hinweise auf die Verwandtschaft mit Eisbärin Tonja
       gegeben, teilte James Brückner, Leiter des Artenschutzreferats beim
       Deutschen Tierschutzbund, am Dienstag mit. Die damalige Tierparkleitung
       habe dies strikt zurückgewiesen.
       
       Die nun bekanntgegebene Verwechslung sei ein „Desaster für die ohnehin
       fragwürdigen Zuchtbemühungen für Eisbären in Zoos“, betonte Brückner.
       Zuchtprogramme in Zoos könnten zwangsläufig nur auf einen kleinen Genpool
       zurückgreifen, es seien auch weitere Beispiele von Inzucht in der
       europäischen Zoopopulation von Eisbären bekannt.
       
       Für Hertha bedeuten die neue Erkenntnisse über ihre Eltern, dass sie
       erstmal kaum Chancen haben wird, sich fortzupflanzen. Und auch bei Tonja
       ist aktuell vom EEP keine weitere Mutterschaft vorgesehen, da ihre
       Abstammungslinie in Europa bereits sehr stark repräsentiert sei. Ganz
       ausschließen will Knieriem das für die Zukunft aber nicht: Vielleicht
       würden später die mütterliche Eigenschaften von Tonja höher bewertet als
       die genetischen.
       
       Für Hertha heißt der Befund jedoch auch, dass sie Berlin erst mal nicht
       verlassen wird, da sie für die Züchtung der vom Aussterben bedrohten
       Tierart „nicht so wichtig sei“, sagte Knieriem. So lange sie sich mit ihrer
       Mutter gut verträgt – was auf Dauer unabhängig von der Herkunft der Mutter
       eher ungewöhnlich sei, schließlich sind Eisbären Einzelgänger*innen –
       bleibt sie in ihrem Gehege im Tierpark. Ein klar positiveres Ende als bei
       Anna Karenina.
       
       19 May 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Berliner-Eisbaerbaby-getauft/!5582204
 (DIR) [2] http://www.tierpark-berlin.de/de/aktuelles/presse-1
 (DIR) [3] /Umstrittene-Wildtierhaltung/!5718572
       
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