# taz.de -- Italienische Filmklassiker auf Netflix: Neue Freiheiten, neue Zwänge
       
       > Netflix zeigt vermehrt italienische Klassiker. Ein Highlight ist Antonio
       > Pietrangelis ernüchtertes Sixties-Porträt „Ich habe sie gut gekannt“.
       
 (IMG) Bild: Adriana (Stefania Sandrelli), Hauptfigur in Antonio Pietrangelis ​„Ich habe sie gut gekannt“ (1965)
       
       Gespannt steht Adriana mit den anderen Platzanweiserinnen auf der Treppe
       eines riesigen Kinos. Sie ist heute schmucker angezogen als die
       Kolleginnen, denn sie arbeitet nicht, sondern wartet auf ihren großen
       Auftritt. Im Vorprogramm soll ein kurzer Spot über angehende
       Schauspielerinnen gezeigt werden, für den sie interviewt wurde.
       
       Doch die Hoffnung, dass angesichts des vollen Kinosaals die ersehnte
       Karriere endlich ins Rollen kommt, ist schon nach Sekunden im Keim
       erstickt. Die Aufnahmen von Adriana sind schamlos manipuliert, das
       Interview ist zu einem billigen Gag umgeschnitten worden, in dem die junge
       Frau als naives Dummchen dasteht, während ein Voice-over anzügliche
       Bemerkungen macht und die Kamera von Adrianas Gesicht auf ihre Beine
       abschwenkt. Das Publikum lacht begeistert, Adriana ist am Tiefpunkt
       angekommen.
       
       Im Kleinen führt diese Szene vor, woran Antonio Pietrangelis grandioser
       Film „Ich habe sie gut gekannt“ („Io la conoscevo bene“) von 1965 niemals
       einen Zweifel lässt: Die beschwingten Sixties und ihre Atmosphäre der
       Befreiung nähren zwar die großen Erwartungen, mit denen Frauen wie Adriana
       vom Land in die Stadt ziehen, lassen sie aber unerfüllt. Die Frauen dürfen
       jene Wünsche nur offener artikulieren, die von den Männern dann
       zerschnitten werden. Spätestens in der Postproduktion hat das Patriarchat
       das letzte Wort.
       
       ## Italiens noch junge Konsumgesellschaft
       
       In fast allen von Pietrangelis Filmen spielen Geschlechterverhältnisse eine
       zentrale Rolle, und „Ich habe sie gut gekannt“ ist so etwas wie seine
       Version von [1][Fellinis „La dolce vita“]. Anstatt Marcello Mastroianni als
       Paparazzo folgen wir Stefania Sandrelli als Adriana durch Italiens noch
       junge Konsumgesellschaft – eine Frau voller Leidenschaft, die durch einen
       Parcours leidenschaftsloser Männer struggelt. Mit einigen will, mit anderen
       muss sie ins Bett.
       
       Von wieder anderen will sie mehr, wird aber stets enttäuscht: vom
       draufgängerischen Dandy, der sich als gewiefter Betrüger entpuppt, ebenso
       wie vom älteren Intellektuellen, der Adriana in hochtrabenden Worten ihre
       eigene „leere Existenz“ [2][mansplaint], oder vom attraktiven
       Industriellensohn, der Adrianas Gutmütigkeit nur für eine neue Affäre
       ausnutzt.
       
       Allianzen, aber eben keine Romanzen, ergeben sich flüchtig mit anderen
       Geschlagenen, die ebenfalls auf ihre Körper zurückgeworfen sind. Wie jener
       etwas einfältige, von Mario Adorf gespielte Preisboxer, den Adriana nach
       einer herben Niederlage zum Bahnhof begleitet. Oder jener in die Jahre
       gekommene Schauspieler, der in einer der irrsten Szenen bei einer Abendgala
       bis kurz vor dem Herztod eine alte Stepptanz-Nummer aufführt, um eventuell
       doch noch mal für einen Film gecastet zu werden.
       
       ## Digitale Restaurationen beim Streaming-Giganten
       
       Dass Pietrangelis Film seit dem 21. April bei Netflix zu sehen ist, hat nur
       mitbekommen, wer Ende März die lange Vorschau-Liste der Netflix-App lange
       genug nach unten gescrollt ist. Erst am Ende tauchten dort nach unzähligen
       bunten auch ein paar schwarz-weiße Vorschaubildchen auf, die auf den
       baldigen Start mehrerer italienischer Filme aus den 1950er und 1960er
       Jahren auf der Plattform hinwiesen.
       
       Wie im Falle einiger schwedischer Stummfilmklassiker, die Anfang des Jahres
       auf Netflix eingespeist wurden, bleibt auch bei diesen Filmen unklar, ob es
       sich um eine aktive Strategie des Unternehmens handelt, das das eigene
       Programm filmhistorisch aufwerten will, oder ob europäische Filminstitute
       auf der Suche nach neuen Vertriebswegen für ihre digitalen Restaurationen
       beim Streaming-Giganten fündig geworden sind.
       
       Zu den auserwählten Filmen zählt jedenfalls auch „Wilder Sommer“ („Estate
       violenta“) von 1959, ein Kriegs- und Liebesdrama von Valerio Zurlini, der
       1968 Pietrangelis letzten Film „Come, quando, perché“ fertigstellte,
       nachdem dieser bei den Dreharbeiten tödlich verunglückt war. Kein
       Geringerer als der mittlerweile 90-jährige französische Schauspielstar
       Jean-Louis Trintignant spielt darin Herumtreiber Carlo, Sohn eines
       glühenden Faschisten, der sich im Sommer 1943 erfolgreich um seine
       Einberufung drückt und sich in die deutlich ältere Roberta verliebt, die
       ihren Mann im Krieg verloren hat.
       
       Der Film, an dem auch die große italienische Drehbuchautorin Suso Cecchi
       d’Amico mitgeschrieben hat, verwebt bildgewaltig die zarte Liebesgeschichte
       mit den Härten des Krieges – ein Bombenhagel am Strand von Riccione führt
       die Liebenden zusammen, ein weiterer reißt sie schließlich auseinander.
       Dabei macht Zurlini, der sich selbst 1943 [3][der Resistenza angeschlossen
       hatte und später der Kommunistischen Partei beitrat], aus seinen
       politischen Neigungen keinen Hehl, zelebriert in einer Szene geradezu die
       Zerstörung einer Mussolini-Statue nach der Entmachtung des Duce.
       
       ## Verbotene Liebe, klassenübergreifend
       
       Auch Raffaello Matarazzos „I figli di nessuno“ (dt. Titel „Mutterliebe,
       Mutterleid“) von 1951 endet düster, aber erst nachdem sich ein
       melodramatischer Exzess Bahn gebrochen hat. Wieder steht eine verbotene
       Liebe im Zentrum, dieses Mal zwischen Guido, dem reichen Besitzer eines
       Marmorsteinbruchs, und Luisa, der Tochter eines seiner Angestellten.
       
       Aus dem klassenübergreifenden Glück entsteht bald ein Kind, das Guidos
       zornige Mutter jedoch, und das ist nur der Höhepunkt einer beispiellosen
       Sabotagekampagne, heimlich entführen und für tot erklären lässt. Es ist
       nicht der einzige plot twist eines wahnwitzig ereignisreichen Films, dem
       vier paar Jahre später mit „L’angelo bianco“ sogar ein Sequel zuteil wurde.
       
       Matarazzo gilt mittlerweile als König des italienischen Melodrams, das sich
       nach dem Zweiten Weltkrieg beim Publikum großer Beliebtheit erfreute. Von
       der Filmkritik, die zur gleichen Zeit euphorisch die Hochphase des
       Neorealismus begleitete, wurden seine Filme wegen ihres Eskapismus damals
       aber ebenso verachtet wie von der katholischen Kirche wegen ihrer
       moralischen Freizügigkeit.
       
       Ironie des Algorithmus also, dass sich heute am ehesten über die
       Netflix-Unterkategorie „Von der Kritik gelobte italienische Filme“ ein
       Überblick über die erschienenen Klassiker finden lässt – zu denen sich am
       28. April mit Ermanno Olmis „Il posto“ (1961) noch Prominenz hinzugesellen
       wird.
       
       ## Grandioser Soundtrack der Sixties
       
       Das Highlight dieser filmischen Bescherung bleibt aber „Ich habe sie gut
       gekannt“, der in Deutschland einst nur in einer 20 Minuten kürzeren Fassung
       im Kino lief, bevor er 2013 in einer DVD-Edition erschienen ist. Die Bilder
       von Pietrangelis Meisterwerk atmen den Geist der neuen Wellen im
       europäischen Kino der 1960er Jahre, sind aber weitestgehend frei von
       Manierismen, saugen vielmehr die Sixties selbst auf, vor allem über den
       grandiosen Soundtrack mit seinen von Begehren durchtränkten Popsongs.
       
       Die Musik und die bisweilen heitere Stimmung machen den Pessimismus des
       Films umso bedrückender. Die neuen Freiheiten gehen mit neuen Zwängen
       einher, die Suche nach Selbstverwirklichung scheitert an der Wirklichkeit.
       So taugt die bis fast zum Ende unbeirrbar naive und gutmeinende Adriana
       auch nicht gerade als feministisches role model. Obwohl sie das Zentrum des
       Films ist, bleibt sie eigentümlich opak.
       
       Von diesem Mangel an Handlungsfähigkeit spricht schon der Filmtitel mit
       seiner eigenwilligen Verbindung aus anonymer erster Person und
       Vergangenheitsform, und seiner bitteren Ironie. Denn gut lernen wir Adriana
       gerade nicht kennen. Dafür umso besser die Welt, an der sie zerbricht.
       
       21 Apr 2021
       
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