# taz.de -- Rückkehr der „Zweiklassengesellschaft“: Marxsche Magie
       
       > Zu den aktuell beliebten Ein-Wort-Kommentaren zu Privilegien für Geimpfte
       > gehört „Zweiklassengesellschaft“. Doch der Begriff passt nicht.
       
 (IMG) Bild: Corona schließt aus: Personenleitsystem im Miniatur Wunderland Hamburg im Juni 2020
       
       Immer, wenn es irgendwo um die Entwicklung unserer Sprache geht, folgt ein
       und derselbe magische Kommentar: „Neusprech!“. Ich habe das jetzt schon
       ungefähr eine Million mal gelesen und frage mich, was denkt sich so ein
       Mensch, der mit diesem einen Wort kommentiert? Meint er, er wäre originell
       oder dass sich seine Intelligenz auf diese Weise zeigt?
       
       Es gibt einige solcher magischen, unendlich oft reproduzierten
       Ein-Wort-Kommentare. Sie sind so beliebt, weil die sie Benutzenden meinen,
       dass die Magie, die diesen Ein-Wort-Kommentaren irgendwie innezuwohnen
       scheint, sie davon entbindet, Argumente vorzubringen oder auch nur einen
       Satz zu formulieren. Schreib einfach nur das Wort, immer und immer wieder!
       
       Ein sehr beliebter, aktueller, magischer Ein-Wort-Kommentar ist:
       „Zweiklassengesellschaft“. Seine Magie wird immer dort eingesetzt, wo
       überlegt wird, Geimpften Vorrechte einzuräumen. Geimpfte sollen ins
       Schwimmbad dürfen? ZWEIKLASSENGESELLSCHAFT!!! Bäm! So ein magischer
       Ein-Wort-Kommentar macht keine Gefangenen, der tötet auf der Stelle.
       
       Jetzt kann man sich natürlich Gedanken machen, und einmal, ganz für sich,
       an seinem alten Schreibtisch den zugegebenermaßen etwas schwierigen Begriff
       der Klasse nach Karl Marx, Max Weber, oder noch früher, Henri de
       Saint-Simon klären. In der Folge könnten sich Zweifel an der Existenz von
       „Klassen“ Geimpfter und Nichtgeimpfter einstellen. Aber nehmen wir einfach
       mal an, der Begriff Klasse würde so weit gedehnt, dass wir von „Klassen“
       Geimpfter und Nichtgeimpfter sprechen können, welche und vor allem wie
       viele Klassen gäbe es dann noch in unserer Gesellschaft, und sind die
       Unterschiede in allen Fällen ungerecht, ließen sie sich überhaupt jemals
       beseitigen?
       
       Um den regionalen Bezug herzustellen: In Hamburg wurde aktuell vom Miniatur
       Wunderland (MW) für dieses Jahr überlegt, Besuchstage getrennt für
       Ungeimpfte und für Geimpfte anzubieten, mit und ohne Auflagen. Die
       Geimpften könnten dann, wie in alten Zeiten, sich um die Schweizer Alpen
       drängen. Das Miniatur Wunderland braucht nämlich dringend Gäste, viele,
       sich drängende Gäste, damit sie Einnahmen haben, die sie überleben lassen.
       Was wäre das nun, was das MW jetzt da einzuführen überlegt: Eine
       Zweiklassengesellschaft?
       
       Andere Geschichte: Die Hamburger Sängerin Nena äußerte sich vor einiger
       Zeit auf Instagram: „Ihr Lieben, auf meinen Konzerten wird es auch
       weiterhin keine Zweiklassengesellschaft geben.“ Sie benutzt den magischen
       Begriff ganz in einen anständigen Satz gekleidet. Man könnte zwar meinen,
       dass auch in Nenas Welt bereits zwei „Klassen“ existierten, Klassen, die
       den ursprünglichen Klassenbegriffen etwas näher kämen, nämlich die Klasse
       derer, die sich eine Konzertkarte für knapp 60 Euro leisten können, und
       derer, die das eben nicht können. Aber dies hat nur mit Reichtum und Armut
       zu tun, eine Aufteilung, die natürlich ist und kaum für Unmut sorgt.
       
       Und da ich einmal bei den „Klassen“ bin, wenn man den Begriff der Klasse so
       außergewöhnlich großzügig auffasst, sind mir doch wirklich noch sehr viele
       ungerechte „Zweiklassengesellschaften“ innerhalb unserer Gesellschaft
       aufgefallen. Da hätten wir, zum Beispiel, die Klasse Menschen, die einen
       Führerschein besitzen und berechtigt sind, ein Auto zu fahren. Was ist aber
       mit denen, die keinen Führerschein besitzen, weil sie einfach keine
       Führerscheinprüfung ablegen wollen oder die Prüfung nicht bestanden haben?
       Ich glaube, da bin ich einer sehr ungerechten Sache auf der Spur.
       
       Oder nehmen wir die Kondomverweigerer. Es gibt Männer, die den Verkehr mit
       Kondom unnatürlich und nicht so geil finden. Ihr gutes Recht. Wenn ich so
       einen ungeschützten Verkehr für gefährlich halte und den betreffendem Mann
       aus diesem Grund den Verkehr verweigere, was bin ich dann? Schöpferin einer
       intimen Zweiklassengesellschaft: Männer, die es mit mir treiben, und
       Männer, die dies nicht dürfen, und nur, weil sie aus ihnen selbst
       vielleicht sehr plausiblen Gründen ein Kondom ablehnen. Die Welt ist so
       ungerecht.
       
       4 Mar 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Seddig
       
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