# taz.de -- Corona-Ausgangssperre in Amsterdam: Die tote Stadt
       
       > Ein Polizist auf Streife, Essenslieferanten, die auf Aufträge warten,
       > und Henk Oldeman, der seinen Hund ausführt: Ein Gang durch die Nacht.
       
       Schon wieder Dokumente! Stephan Fischer blättert sie durch, halb amüsiert,
       halb gelangweilt. „Arbeitgebererklärung, okay“, brummt er, „und dann noch
       die eigene Erklärung, weshalb Sie um diese Zeit draußen sein müssen.“
       Fischer, ein Polizist im Zentrum von Amsterdam, findet all das eigentlich
       „ein bisschen viel Aufwand“. Gemeinsam mit zwei Kollegen steht er an einer
       Brücke und kontrolliert diejenigen, die trotz der Ausgangsperre noch
       unterwegs sind, weil sie von der Arbeit kommen, oder wegen eines
       medizinischen Notfalls.
       
       Es ist gegen zehn Uhr am Mittwochabend, die vierte Nacht seit Eingang der
       avondklok, wie Ausgangssperre in den Niederlanden heißt. Die Lage ist
       ruhig, berichtet Stephan Fischer. „Die Kontrollen verlaufen problemlos, die
       Leute haben Verständnis, und zu 99 Prozent auch die nötigen Formulare
       dabei. Trotzdem, dieser Zustand sollte nicht zu lange dauern.“ Fischer
       erzählt, dass seine Arbeit in seinem Viertel auch Fälle häuslicher Gewalt
       betrifft. „Die familiären Spannungen nehmen in dieser Lage zu. Die
       Gewaltexplosion der letzten Tage hat damit aber nichts zu tun.“
       
       Diese [1][Krawalle] haben die niederländische Sperrstunde weltweit in die
       Schlagzeilen gebracht. Im Mittelpunkt stand dabei eine skurrile Allianz aus
       Gegnern von Coronamaßnahmen, die ungenehmigt vor dem Amsterdamer
       Rijksmuseum demonstrierten: gegen die Sperrstunde und den Lockdown, gegen
       Regierung, Mainstreammedien und die vermeintliche Coronadiktatur. Die Lage
       eskalierte, und die Polizei räumte den Museumsplatz mithilfe von
       Wasserwerfern. In Eindhoven endete eine Kundgebung mit Straßenschlachten
       und Plünderungen. Und auch in anderen Städten kam es mehrfach zur Randale,
       darunter in zwei Vierteln von Amsterdam.
       
       Selbst war Fischer nicht im Einsatz bei der Demonstration auf dem
       Museumsplatz, doch er kennt Kollegen, die dort Dienst tun mussten. Wie
       sieht er das, was dort passiert ist? Der Polizist denkt kurz nach, dann
       sagt er mit unaufgeregter Stimme: „Man muss das unterscheiden: bei dieser
       Kundgebung waren nicht nur Randalierer, sondern auch aufrechte Leute, die
       sich Sorgen machten, Gastronomen zum Beispiel. Als es dann um die
       Sperrstunde ging, waren das frustrierte Jugendliche.“
       
       ## Lieferant Syed Yawar Hussain wartet auf neue Aufträge
       
       Die einzigen, die Fischer und seine Kollegen in dieser Nacht unbehelligt
       passieren lassen, sind die Essenslieferanten auf Mofas und Fahrrädern, die
       mit ihren klobigen bunten Kisten auf dem Gepäckträger beständig
       vorbeikommen, dick eingepackt, denn die Nacht ist feucht und unangenehm.
       Waterkou nennt man das hier, Wasserkälte. Die Lieferbranche ist eine
       eindeutige Coronagewinnerin: Im letzten Jahr legte sie in den Niederlanden
       um 43 Prozent zu. Die Volkskrant nennt sie die „Lebensader des Lockdown“.
       
       Vor der McDonald’s- Filiale am Ende der Einkaufsstraße Nieuwendijk geben
       sich die Pedalritter ein Stelldichein. Fünf, sechs, sieben von ihnen stehen
       vor dem Laden und warten auf einen Auftrag. Es ist gegen halb elf, und die
       Restaurants haben inzwischen geschlossen, nur McDonald’s und KFC nicht.
       Auch das Leben im Homeoffice treibt dieser calvinistischen Stadt das frühe
       Abendessen nicht aus, und so dürfte man vor den Burgerbratereien während
       der Sperrstunde die größten Menschenansammlungen auf ihren Straßen finden.
       
       Einer von ihnen ist Syed Yawar Hussain, ein 27-jähriger Pakistaner.
       Gemeinsam mit einem indischen Kollegen steht er etwas abseits von den
       anderen. Seit einem halben Jahr fahren sie für den Branchenriesen Uber
       Eats. Der Arbeitgeber regelt die Genehmigung für die Sperrstunde. Das
       E-Bike in der Betriebsfarbe leiht Syed sich per Abo in einem Radgeschäft –
       „109 Euro im Monat mit Versicherung, aber die meisten von uns haben keine“,
       sagt er.
       
       Auffallend viele Fahrer stammen ursprünglich aus Indien, Pakistan oder
       Bangladesch. „Das ist eine Frage von Beziehungen. Einer bringt den anderen
       mit“, heißt es. Eine junge Frau geht vorbei, in Richtung Bahnhof. Ihrer
       Bekleidung nach kommt sie von der Spätschicht beim Supermarkt Albert Heijn.
       
       Auch Hussain wird in einer Stunde die letzte Metro an den Stadtrand nehmen,
       wo er wohnt. Vorher will er aber noch einen Auftrag. Sein indischer Kollege
       hat soeben eine Tour bekommen und empfiehlt sich. Hussain wartet, seit
       anderthalb Stunden schon.
       
       ## Das Rotlichtviertel: ein leeres Freilichtmuseum
       
       Auf dem Weg hinüber ins Rotlichtviertel gleiten Lieferanten lautlos vorbei.
       Lockdown und Sperrstunde haben die Stadt verändert. Auf dem Zeedijk mit
       seinen Ausläufern von China Town blieben schon Kunden weg, als vor einem
       Jahr die ersten Horrornachrichten aus dem chinesischen Wuhan kamen. Da saß
       der Rest der Stadt noch dicht beieinander in den Bars. Heute wirkt das
       Viertel wie ein leer gefegtes Freilichtmuseum.
       
       Einen Block weiter stehen zwei Taxifahrer an einer Ecke, ohne jede Aussicht
       auf Kundschaft. „Steigen Sie ein“, sagt einer sarkastisch, „immerhin ist es
       warm. Ich fahre Sie durch die ganze Stadt.“
       
       Man muss das Rotlichtviertel nicht mögen, um anhand kleiner Details
       festzustellen, wie man sich an diesen Zustand gewöhnt hat: dass es keine
       Touristen mehr gibt, die die hoch wie die Berge aufgestapelten bunten
       Gebäckauslagen in sich hineinzwängen. Dass keine wogenden Menschengruppen
       die Straßen verstopfen, so wie sie das im Sommer in einer kurzen Phase
       zwischen den Viruswellen noch taten. Und dass niemand mehr die Pissoirs
       betritt, auf denen Sticker an „Eintracht Frankfurt“ oder „Fuchsbau
       Kreuzberg“ erinnern. Was wollten die hier noch mal, diese Hessen und
       Berliner?
       
       Jetzt, in der Sperrstunde, wirkt die Stadt wie eine Filmkulisse aus
       Pappmaché. Vom Bahnhof aus ist das Geräusch der ratternden Eisenbahnräder
       über Hunderte Meter die reglosen Grachten entlang zu hören, so still ist es
       geworden. Das nächtliche Winterkrächzen der Enten wirkt noch dringlicher
       und klagender, und die Lüftung eines Gebäudes dröhnt geradezu aus einer der
       kleinen Gassen herüber.
       
       Und dann, mit einem Mal, schallen einige junge Stimmen aus einem Fenster
       zur Gracht: Ausgerechnet dieses exaltierte „Firework“ singen sie, die
       Aufforderung, verdammt noch mal zu scheinen, wenn man sich wie lebendig
       begraben fühlt.
       
       ## Henk Oldeman führt einen Hund aus
       
       Es geht auf Mitternacht zu, als Henk Oldeman mit hochgeschlagenem Kragen
       und Schiebermütze auf dem Kopf vor seine Tür tritt. In der einen Hand hat
       er eine Thermosflasche mit Tee und „einem guten Schuss Cognac“, wie er
       sagt. Die überreicht er dem Obdachlosen, der sich auf eine Matratze
       gebettet hat, im Durchgang des Wohnkomplexes zur Gracht. Mit der anderen
       Hand hält Oldeman die Leine, an der Tanne läuft, seine Markies-Hündin.
       Tanne ist rekordverdächtige 17 Jahre alt, blind und taub. Henk ist 83, das
       Laufen fällt ihm manchmal schwer, doch sein Kopf denkt messerscharf. Wenn
       die Knie es zulassen, engagiert er sich in der Klimabewegung.
       
       Ein Hund ist in diesen Zeiten ein Privileg: eine Gassi-Runde nämlich gilt
       als Ausnahme von der Sperrstunde. „Ich hab Tanne, ich darf raus. Und mehr
       mache ich abends ohnehin nicht draußen“ grinst Oldeman, der einst als
       Korrespondent einer Bank Geschäftsbriefe übersetzte. Die Sperrstunde hält
       er für angemessen, um das Virus zu bekämpfen. „Alles, was hilft, muss man
       probieren. Es ist doch eine ganz schöne Katastrophe, die uns hier
       widerfährt. Nur wundere ich mich, warum sie nicht schon um sieben Uhr
       beginnt? Das wäre doch konsequenter.“
       
       Als in Parlament und Gesellschaft über die Ausgangssperre heftig diskutiert
       wurde, verwiesen Gegner darauf, dass ein solch drastischer Schritt zum
       letzten Mal unter der Nazi-Besatzung galt. In Enschede, wo Henk Oldeman
       aufwuchs, hat er das noch als Kind erlebt. Wobei ein abendlicher
       Spaziergang für ihn als Fünfjährigen ohnehin nicht in Frage kam. Heute
       erinnert er sich an „eine Atmosphäre der Angst“, und an „Männer auf der
       Straße, die die absolute Macht hatten“. Tanne, die mehr herumschnüffelt als
       wirklich läuft, drückt sich eng gegen sein Bein.
       
       Was Corona betrifft, weiß Henk Oldeman manchmal nicht recht, wem er glauben
       soll. So viel Unsicherheit, so viele Gerüchte, und er kann sie nicht alle
       überprüfen. Doch was er weiß, ist, dass die Ungleichheit im Land zunimmt,
       dass Kinder „in einer Gesellschaft, die völlig geschlossen ist“,
       aufwachsen. Das beschäftigt ihn. „Man findet vielleicht einen Job für ein
       Jahr, aber keinen, mit dem man ein Haus kaufen kann. Natürlich heiße ich
       solche Krawalle nicht gut, aber ich kann mir schon vorstellen, dass man
       etwas gegen diese Gesellschaft unternehmen will.“
       
       Der Sturm der Gewalt aus den ersten Nächten der Sperrstunde ist im Lauf der
       Woche abgeflaut. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Justiz die
       Beteiligten mithilfe von Videobildern zu identifizieren begann und nun
       Menschen zur Rechenschaft zieht, die in den sozialen Medien zur Randale
       aufgerufen hatten. Per Schnellverfahren sind die ersten Überführten schon
       verurteilt worden: Vier Wochen Haft etwa bekam ein Mann, der bei einer
       Plünderung Süßigkeiten, Stifte und eine Kappe einsteckte, ein anderer, der
       die Polizisten auf dem Museumsplatz mit Steinen bewarf, drei Monate, davon
       zwei auf Bewährung. Ein Dritter muss wegen eines Facebook-Aufrufs für zwei
       Monate ins Gefängnis und bekam zwei weitere auf Bewährung.
       
       Derweil ist man sich im Forum der Facebook-Gruppe, die an den letzten
       beiden Sonntagen zum „Kaffeetrinken“ in Amsterdam aufrief, unschlüssig, was
       die Wochenendplanung betrifft: Manche wollen nicht mehr kommen, andere ganz
       sicher. In der P. C. Hooftstraat, einer luxuriösen Shoppingmeile, will man
       nichts dem Zufall überlassen. Am Mittwoch begannen die ersten Unternehmer
       damit, ihre Etablissements zu verbarrikadieren. Einen Tag später forderte
       Bürgermeisterin Femke Halsema im Stadtrat, die Barrikaden müssten weg, weil
       die Polizei die Lage unter Kontrolle habe und das Straßenbild so
       Unsicherheit ausdrücke.
       
       ## Die verbarrikadierte Einkaufsmeile
       
       Tatsächlich erinnert es bei Nacht an eine Belagerung. Eine Straße weiter
       sind Schaufenster mit Brettern zugenagelt. Es lässt sich ausmalen, was die
       Verbarrikadierung einer Boutique namens „Chez L’Elite“ bei den
       Demonstranten auslösen kann. Von der Seitenstraße kommt ein junger Mann mit
       einem Dackel gelaufen, der in die P. C. Hooft einbiegt.
       
       Ein Securitymann, der auf seinem Mofa schon einige Male hin und her
       gefahren ist, hält an: „Unwirklich“ findet er die Szenerie, „traurig für
       ein zivilisiertes Land“. Hany, so will er genannt werden, weil er seinen
       richtigen Namen in seiner Funktion nicht nennen darf, arbeitet eigentlich
       als Sicherheitsbeauftragter in den umliegenden Geschäften. Seit zwei
       Einbrüchen haben die Ladenbetreiber seine Firma für nächtliche Patrouillen
       engagiert. Was er am Sonntag erwartet? „Die Mitläufer werden zweimal
       nachdenken, aber der harte Kern wird voll entschlossen sein.“
       
       Die Sperrstunde hält Hany für richtig, nur hätte man sie früher einführen
       müssen. „Das ist typisch Niederlande: den Tatsachen lange hinterherlaufen
       und dann zu spät Maßnahmen ergreifen.“ Im Allgemeinen findet er aber, dass
       sich die Amsterdamer gut an die Auflagen halten. Er verabschiedet sich mit
       einer Warnung: „Dieser Zustand sollte nicht zu lange andauern. Es gibt
       keine Perspektive. Und das kann noch zu einem Katalysator werden.“
       
       Vor genau einem solchen Szenario fürchtet man sich im Viertel Slotermeer,
       weit draußen im Westen Amsterdams. Als sich Mitte der Woche nachmittags 70
       Jugendliche auf dem zentralen Platz zusammenfanden, traten Sozialarbeiter,
       Eltern und Moscheenvertreter auf den Plan und verhinderten, dass die Lage
       eskalierte. Seither sind sie jeden Abend vor Ort, patrouillieren in
       Zusammenarbeit mit der Polizei in neongelben Westen und fordern Jugendliche
       auf, nach Hause zu gehen.
       
       „Vorbeugen ist besser als heilen“, fasst es Mohammed Azzamouri zusammen,
       ein 22-Jähriger, der bei der Nachbarschaftsorganisation „Unite“ als
       Sportcoach arbeitet. Es ist Samstagabend um kurz nach neun, ein
       bitterkalter Wind fegt über den leeren Platz, und Mohammed und seine zwei
       Kollegen sehen zufrieden aus. Ein kleines Zivil-Auto mit zwei Polizisten
       hält vor ihnen an. „Ist alles okay?“, fragt der Fahrer? „Alles ruhig“,
       entgegnet Mohammed. Die Polizisten bedanken sich und brechen auf.
       
       Auch Mohammed und die anderen machen sich auf den Weg nach Hause. Im Laufen
       sagt er, dass die Jugendlichen zu Hause vereinsamen würden. Für die
       Ausschreitungen dieser Woche macht er Langeweile, Gruppendruck und
       Nervenkitzel verantwortlich. Die Situation sei nicht einfach, räumt er ein.
       Auch Mohmamed würde am Abend lieber rausgehen. „Aber wir müssen auf die
       gesamte Situation schauen: Wenn wir das geschafft haben, können wir auch
       wieder in vollen Zügen genießen.“
       
       Begibt man sich weit nach Mitternacht noch einmal in die P. C. Hooftstraat,
       wird klar, dass vor dem großen Genießen noch einige Hürden zu überwinden
       sind. Vielleicht ist es ein Ausdruck zunehmenden Einigelns in Blasen und
       Szenen, dass die Barrikaden nun, in der letzten Nacht vor der befürchteten
       nächsten Kundgebung, noch wesentlich verstärkt wurden. Der Aufruf der
       Bürgermeisterin ist jedenfalls ignoriert worden: Kaum ein Schaufenster ist
       noch zu sehen, dafür zählt man nicht weniger als 70 Läden hinter Holz- und
       Steinverkleidungen. Doch die Nacht verläuft ruhig.
       
       Als um halb fünf die Sperrstunde endet, beleben sich die Fahrradwege. Nicht
       ausgeschlossen, dass hinter verschlossenen Wohnungstüren so etwas wie ein
       Sozialleben weitergeht. Dass das eben noch so essentielle Dokument der
       Ausnahmegenehmigung vom Befolgen der Ausgangssperre nun ein wertloser
       Papierlappen in der Tasche geworden ist.
       
       Ein letzter Stopp am Leidseplein, wo die Nachtstreife, die immer mitten auf
       dem Platz steht, schon verschwunden ist. Ganz oben unter dem Giebel des
       Café De Waard hängt ein großes Banner, das ein Herz und ein Amsterdam-Logo
       zeigt. Dazwischen steht in Blocklettern: „Wenn du das Gefühl hast, dass die
       Welt stillsteht, dann denke an den Tag, an dem sich diese Tür wieder
       öffnet.“ Wie man sich dann wohl an diesen Winter der ausgestorbenen Straßen
       und der Wasserwerfer erinnern wird?
       
       1 Feb 2021
       
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 (DIR) Tobias Müller
       
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