# taz.de -- Die Wahrheit: Homeoffice nur in der Freizeit
       
       > Private Kontakte sind auch weiterhin verboten, menschliche Nähe gibt es
       > im Büro. Die Wahrheit war zu Gast bei deutschen Chefs.
       
 (IMG) Bild: Zu Hause ist man gut abgeschirmt
       
       Er ist es wohl eher nicht gewohnt, ein klingelndes Handy zu hören.
       Christoph Halbgewachs, 55, Inhaber eines Callcenters, sitzt meistens am
       anderen Ende der Leitung. Und als Chef auch am längeren Hebel. Wie viele
       andere Führungspersonen lässt er seine Angestellten trotz Pandemie jeden
       Tag im Großraumbüro antanzen und dicht an dicht aufeinandersitzen. Wir
       fragen ihn bei unserem Whatsapp-Anruf: Warum kommen so viele
       Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber der zarten Bitte der Bundesregierung, das
       Personal doch bitte zu Hause zu lassen, nicht nach?
       
       „Auf den ersten Blick mag es seltsam wirken: Warum sollten Angestellte
       eines Callcenters nicht auch von zu Hause aus unschuldige Bürger belästigen
       können?“, fragt Halbgewachs zurück – er ist es ebenso wenig gewohnt, Fragen
       zu beantworten. „Ich habe dieses Unternehmen als junger Mann kurz nach der
       Fachhochschule aufgebaut. Damals hatte ich nichts weiter als ein
       Wahlscheibentelefon, mit dem ich mich alphabetisch durchs Telefonbuch
       klingelte und darauf hoffte, dass am anderen Ende der Leitung jemand saß,
       der gut zuhören und schlecht Nein sagen konnte. ‚Homeffice‘ war keine
       Option, weil es das Wort bei uns noch gar nicht gab“, erzählt der Mann mit
       der vertrauenerweckenden Stimme. Heute besitzt Halbgewachs 25
       Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: „Meine eigene Headset-Ork-Armee!“,
       schreit er, ohne zu lachen.
       
       Für die Arbeit im Callcenter brauche es Konzentration und eine gesunde
       Portion Aggression: „Die entsteht nur, wenn man morgens in der Kälte mit
       beschlagener Brille auf die verspätete Bahn wartet und dann ins stickige
       Büro hastet. Würden meine Telefonkrieger zu Hause sitzen, kämen sie
       womöglich auf die Idee, darüber nachzudenken, was sie hier eigentlich tun.
       Dann wäre mein Geschäft auf kurz oder lang ruiniert.“ Zum Abschied verkauft
       er uns einen neuen Internetvertrag mit dreifacher Leistung für nur 7,99
       Euro mehr im Monat.
       
       Wie Halbgewachs ermöglicht auch Ronald Klingenmayer seinen Untergebenen
       keine Homeoffice-Zeiten. Wir treffen den 43-jährigen Geschäftsführer im
       Raucherbereich seiner Kartonagenfabrik. Durch ein kleines Fenster sehen wir
       in den Pausenraum, wo die Arbeitnehmer gemeinsam über einer Illustrierten
       hängen und den mitgebrachten Nudelsalat verspeisen. Die Kantine hat
       geschlossen. Lüften können sie hier auch nicht, sonst wird die Pappe
       feucht.
       
       ## Rauchen einstellen
       
       „Kartonagen lassen sich nun mal nur in der Fabrik fabrizieren“, sagt
       Klingenmayer, nimmt einen Zug und aerosolt eine kräftige Rauchwolke auf
       unsere FFP2-Masken. „Wir basteln hier Schuhkartons, Spielzeugverpackungen,
       Zigarettenschachteln – Dinge, auf die wir wegen Corona besonders angewiesen
       sind. Stellen Sie sich etwa vor, die Leute würden keine Zigaretten mehr
       kaufen können und das Rauchen einstellen.“ Er zeigt auf seine Kippe, von
       der ein wenig Asche auf seine bunten Balenciaga-Schuhe bröselt. „Dann
       hätten wir nächstes Jahr eine deutlich schlechtere Auftragslage und ich
       müsste die Leute entlassen. Was haben sie davon, eine Pandemie zu
       überleben, wenn sie dann arbeitslos sind?“
       
       Unsere nächste Interviewpartnerin erreichen wir mittels Zoom-Video-Call.
       Janine Bühner (37) hat vor ein paar Jahren eine Werbeagentur gegründet.
       Gerade in ihrem Beruf achte man natürlich besonders auf die Außenwirkung:
       „Deshalb ist mir wichtig zu betonen, dass meine Angestellten allesamt
       freiwillig zur Arbeit erscheinen. Kündigen darf bei uns jede und jeder“,
       versichert die Dame mit einem routinierten Lächeln und nimmt einen Schluck
       Kaffee aus ihrer Tasse mit der Aufschrift „I don’t like morning people. Or
       mornings. Or people.“
       
       Aufgrund der vielen ineinander verwobenen Arbeitsprozesse sei es
       schlichtweg unmöglich, die Kolleginnen und Kollegen von der
       Präsenzpflicht zu befreien, klagt sie: „Unser
       Junior-Text-Content-Manager-Assistant-in-Chief beispielsweise hatte sich
       neulich ins Homeoffice verabschiedet, weil er dachte, er könne seine Arbeit
       auch von zu Hause aus erledigen. Er hat aber vergessen, dass er unter
       anderem für das Nachfüllen unserer Obstschale zuständig ist – bei uns
       bekommen alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kostenloses Obst und Zugang
       zum Tischkicker. Letzterer wird selbstredend regelmäßig desinfiziert, und
       zwar ebenfalls von besagtem
       Junior-Text-Content-Manager-Assistant-in-Chief.“
       
       Deshalb habe sie den jungen Mann dann auch wieder schleunigst zurück zu
       seiner Arbeitsstätte gerufen: „Die Sicherheit und Gesundheit der
       Kolleginnen und Kollegen in unserer Kreativwerkstatt steht über allem.“
       Ausnahmen lässt die Werberin jedoch durchaus zu: „Überstunden, E-Mails
       checken, sich telefonisch mit den Kunden rumärgern, das dürfen meine Leute
       zu Hause erledigen, beim Frühstück oder nach Feierabend. Homeoffice können
       bei uns wirklich alle machen, aber dann bitte in der Freizeit.“
       
       22 Jan 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cornelius Oettle
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Homeoffice
 (DIR) Arbeitgeber
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Finanzmarkt
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Frosch
 (DIR) Ohren
 (DIR) Astrophysik
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Sechzehn Kilo Bass
       
       Mit einem Subwoofer ein mittleres Erdbeben auslösen, ist der Traum vieler
       Jugendlicher. Aber was, wenn es tatsächlich passiert?
       
 (DIR) Die Wahrheit: Die vier Wirtschaftsmeisen
       
       Turbulenzen auf dem Finanzmarkt? Die einzig sichere Bank bei all den
       dauernden Betrügereien sind die Checker von Ernst & Young und Konsorten.
       
 (DIR) Der Staat und das Homeoffice: Kein Feierabend fürs Büro
       
       Alle sollen ins Homeoffice – aber der größte Arbeitgeber des Landes selbst
       kriegt es nicht hin. Es fehlen E-Akten, PCs und schnelles Internet.
       
 (DIR) Corona-Impfstoffe in Deutschland: Ärger über Impfverzögerung
       
       Weil Biontech die Impfstofflieferung in den nächsten Wochen reduziert,
       müssen Bundesländer ihre Pläne anpassen. Die Kanzlerin hat Verständnis.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Der letzte Angstschrei
       
       Wahre Tierkunde: Frösche und Fanfaren machen im Alarmzustand einen
       außerordentlich ohrenbetäubenden Lärm.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Besser segeln durch die Krise
       
       Unerhörtes über Außenohren, biegsame Knorpel und Lauscher im Gegenwind als
       Zeichen der besonderen Intelligenz.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Expedition mit Müll
       
       Suspekte Objekte, interstellare Fürze, gigantische Plasmawinde: Wozu
       schwarze Löcher im Weltraum wirklich gut sein könnten.