# taz.de -- Coronavirus im Vereinigten Königreich: Tagsüber bitte mehr Haltung
       
       > Angst und Sorgen wegen der Ausbreitung des Coronavirus kann man haben.
       > Aber wenn Panik Politik bestimmt, dann ist das problematisch.
       
 (IMG) Bild: Hatte selbst Covid, ist aber wieder genesen: Boris Johnson
       
       Das mit dem mutierten Virus sei doch nur ein leicht durchschaubarer
       Vorwand, mailt ein Freund aus London. [1][Boris Johnson] habe gemerkt, dass
       es ein Fehler war, sich nicht an Empfehlungen der Wissenschaft zu halten
       und den Lockdown in Großbritannien schon früher verschärft zu haben. Nun
       bräuchte er einfach eine halbwegs überzeugende Begründung für seinen
       scharfen Kurswechsel. Die Mutation sei für ihn enorm praktisch.
       
       Praktisch finden die auch andere Leute, allerdings nicht für den britischen
       Premierminister. Sie sehen ganz andere Interessen am Werk: „Das ist alles
       ein Trick, um Druck auf Boris auszuüben, damit er einen schlechten Deal für
       das Vereinigte Königreich akzeptiert. Gib der Erpressung nicht nach,
       Boris!“ So ein Leserbrief in der Daily Mail, nachdem mehrere europäische
       Länder die Grenzen nach Großbritannien dicht gemacht hatten. Ein anderer:
       „Brexit-Erpressung von EU-Ländern!“
       
       So sehen parallele Universen aus. Zwischen diesen beiden Standpunkten
       liegen Welten. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten: Beide, sowohl mein Freund
       als auch die Autorinnen oder Autoren der Leserbriefe, trauen der Exekutive
       ziemlich viel Raffinesse zu. Sie denken, dass deren Führungsspitzen
       imstande sind, eine – in ihren Augen relativ unbedeutende – Nachricht
       schlau zu nutzen und für eigene Zwecke einzusetzen.
       
       Schön wär’s. Ich beneide alle, die das noch für möglich halten. Würde es
       doch bedeuten, dass auch in der gegenwärtigen Krise politisches Handeln für
       planbar gehalten wird, eine Intrige sich lohnt und die Zukunft berechenbar
       erscheint. Meinem Eindruck nach kann davon täglich weniger die Rede sein.
       
       Sowohl zur britischen wie auch zur kontinentaleuropäischen Reaktion auf die
       Mutation des Coronavirus fällt mir nur ein einziges Wort ein: Hysterie.
       
       Passagiere werden [2][stundenlang unter Polizeibewachung] auf Flughäfen
       eingesperrt, weil sich binnen weniger Stunden die Vorschriften so geändert
       haben, dass sie von den Reisenden schlechterdings nicht erfüllt werden
       konnten? Viele tausend Lastwagen stauen sich zwischen Frankreich und
       Großbritannien und kommen weder vor noch zurück? Und all das wegen einer
       Virusmutation, die seit Monaten bekannt ist, sogar der
       Weltgesundheitsorganisation WHO, und die längst auch auf dem europäischen
       Festland angekommen ist? Nein, das scheint mir nichts, aber schon wirklich
       gar nichts, mit rationalem Verhalten zu tun zu haben. Leider.
       
       Internationale Virologen äußern sich abwägend und zurückhaltend. Die
       EU-Kommission hat sich mittlerweile gegen strikte Grenzschließungen
       ausgesprochen und Frankreich hat die eilends verfügten Reisebeschränkungen
       wieder gelockert. All das ist erfreulich. Es ist ermutigend, wenn zumindest
       einige Leute erst einmal Luft holen, bevor sie dramatische Maßnahmen
       verkünden. Oder wenn sie zur Kurskorrektur fähig sind. Angst ist
       bekanntlich ein schlechter Ratgeber.
       
       Nicht, dass ich Angst nicht verstünde. Ich habe selber Angst. Privat. Und
       ich fände es völlig in Ordnung, wenn der deutsche Gesundheitsminister Jens
       Spahn, der britische Premier Boris Johnson oder Trump oder Merkel oder
       Macron oder wer auch immer nachts von ihren Ängsten geschüttelt würden. Das
       geht uns nichts an.
       
       Aber tagsüber: Bitte etwas mehr Haltung und Vernunft. Dafür sind Sie
       gewählt worden. Und niemand – wirklich niemand – befolgt Ratschläge von
       Leuten, die erkennbar unter Panikattacken leiden. Deshalb haben die
       eiligen, allzu eiligen Reaktionen auf die britische Virusmutation der
       Bekämpfung der Pandemie eher geschadet.
       
       24 Dec 2020
       
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