# taz.de -- Der Ethikrat: Retten, was zu retten ist
       
       > Was tun, wenn der Nachbar vielleicht die Katzenjungen um die Ecke bringt?
       > Der Ethikrat wüsste es vermutlich, ist aber selbst in Bedrängnis.
       
 (IMG) Bild: Wir glaubten, das Katzenkind zu retten – aber das war wohl ein Irrtum
       
       Nach der Weihnachtsfeier auf meinem Balkon hatte ich nicht erwartet, den
       Ethikrat in nächster Zeit noch einmal zu treffen. Der Ethikrat, das sind
       drei ältere Herrn von geringer Größe, die mich gelegentlich aufsuchen, um
       mir [1][Handreichungen in praktischer Ethik] zu geben. Aber natürlich hatte
       ich den Rat unterschätzt. Als ich am Donnerstagabend mein E-Mail-Postfach
       öffnete, fand ich dort die Einladung zu einem Zoom-Treffen.
       
       Es begann unmittelbar darauf, deswegen saß ich noch am unabgedeckten
       Abendbrottisch, als der Ethikrat auf dem Bildschirm auftauchte. Die
       Mitglieder trugen Anzug mit Hemd und Fliegen in dunklem Grün, das gut zu
       dem Adventskranz passte, der auf einem Hocker neben ihnen lag. Sie saßen an
       einem langen Tisch, hinter dem ein Bücherregal mit einer Kant-Büste
       aufragte.
       
       „Guten Abend“, sagte der Ratsvorsitzende und nickte mir zu. „Haben Sie eine
       Frage, die Sie nicht mit ins nächste Jahr nehmen wollen?“ Natürlich waren
       mir alle Fragen, die mir in letzter Zeit dringlich erschienen waren,
       entfallen, aber in diesem Moment sprang der Kater auf den Tisch. Er stammt
       aus einer Scheune in der Nähe unserer Wochenenddatscha, in der halbwilde
       Katzen leben. Als eine Katzenmutter überfahren wurde, suchten wir nach den
       Jungen, fanden eines und nahmen es mit in die Stadt.
       
       Wir dachten, dass wir es vor dem Tod retteten, bis wir seine Geschwister
       trafen, die allein überlebt hatten. Wir dachten weiterhin, dass sich die
       zunehmende Wildheit des Katers legen würde, tatsächlich fällt er uns immer
       heftiger an. Wenn ich ehrlich bin, ist meine Liebe zu ihm ein wenig
       eingetrübt.
       
       ## Was die Leute im Dorf erzählen
       
       „Wie weit darf man sich einmischen?“, fragte ich in den Computer hinein und
       versuchte, den Kater vom Tisch zu schubsen, „wenn man glaubt, dass jemand
       seiner Verantwortung nicht nachkommt?“ Der Ratsvorsitzende war inzwischen
       aufgestanden und suchte etwas im Regal, aber die beiden anderen Mitglieder
       schienen mir noch zuzuhören.
       
       Die Leute im Dorf erzählen Unterschiedliches darüber, was der Besitzer der
       halbwilden Katzen mit dem immer neuen Nachwuchs tut, es reicht von
       Verschenken bis Ertränken. Sicher ist, dass er sich nicht überzeugen lässt,
       die Kater zu kastrieren. Unsere Überlegung, sie selbst zum Tierarzt zu
       bringen, scheiterte schon daran, dass sie sich nicht anfassen lassen.
       Neulich guckte ich noch einmal nach den Katzen, und wenn ich mich nicht
       versehen habe, ist eine wieder schwanger.
       
       „Wäre es übergriffig, die Tierhilfe anzurufen?“, fragte ich den Rat und
       fühlte mich wie eine Mischung aus Else Kling und der Art Stadtmenschen, die
       zwei Wochen auf dem Land verbringen, um neuen Input für ihren Blog zu
       sammeln. Der Ethikrat tuschelte. „Ich weiß, dass Sie Philosophen sind!“,
       rief ich. „Vielleicht ist die Kastrationsfrage zu banal. Abstrakter
       gefragt, ginge es um die Abwägung zwischen der Achtung der Autonomie des
       anderen und der Notlage eines Dritten, oder?“ Aber da brach die Verbindung
       zusammen und der Rat verschwand vom Bildschirm.
       
       Ein paar Tage später lief ich durch die Fußgängerzone, als ich Flötentöne
       hörte, die mir bekannt vorkamen. Ich drehte mich um und sah den Ethikrat:
       Zwei Mitglieder spielten Flöte und Triangel, der Vorsitzende sang dazu „O
       du fröhliche“. Sie trugen Weihnachtsmützen, vor ihnen flackerte ein
       künstliches Teelicht und daneben stand ein Karton, auf den geschrieben war:
       „Für bedürftige Alte“. Sie hatten nur eine Zuhörerin, eine alte Frau mit
       Pudelmütze, deren rattenartiger Hund am Mantel des Ratsvorsitzenden
       schnüffelte.
       
       Ich fragte mich, ob der Ethikrat möglicherweise selbst bedürftig war. Der
       Gedanke war mir noch nie gekommen. Aber ich wagte nicht, zum Karton zu
       gehen, ich dachte, dass es den Rat beschämen könnte. „Ist das falsche
       Scham?“, fragte ich mich, aber es gab niemanden, der mir hätte antworten
       können. Stattdessen gab ich das Geld einer bettelnden Frau zehn Meter
       weiter. „Vielleicht“, rief sie mir heiter hinterher, „kann ich mal was für
       Sie tun!“
       
       20 Dec 2020
       
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