# taz.de -- Die Krisenjahre 2015 und 2020: Apathie hier, Aufbruch dort
       
       > 2020 zeigt: Die Gesellschaft ist offener, flexibler und hilfsbereiter ist
       > als die Institutionen, die sie abbilden. Das konnten wir auch schon 2015
       > sehen.
       
 (IMG) Bild: Trügerische Ruhe: Leere Straße im Corona-Mai
       
       Ich erinnere mich an die stillen Tage, als ich meine Notizen zur Krise
       begann, ich erinnere mich an die leeren Morgenstunden und die Abende, an
       denen die Torstraße dalag wie vergessen, kein Auto weit und breit, alle
       Menschen hatten sich zurückgezogen, obwohl der Frühling durch die Straßen
       zog wie ein Versprechen – aber dieses Versprechen war trügerisch, so wie
       alles trügerisch geworden war, die Sonne, der milde Wind, die Umarmung,
       die Nähe, der Kuss, ansteckend.
       
       Ist das erst zwei Jahreszeiten her? Wie viele Monate? Wie viel
       Verzweiflung, Leere, Anpassung? Und was ist seither geschehen? Freunde
       treiben in die Irrationalität und driften davon, Feindschaften blühen auf
       wie zuletzt 2015, als sich das Land in die spaltete, die mit Menschlichkeit
       reagierten, und die, die ihre eigene Angst und Aggression auf die
       projizierten, die kamen, weil sie mussten, weil sie nicht woanders sein
       konnten als hier.
       
       Die Verbindungen zwischen diesen beiden Jahren 2015 und 2020 sind
       verschieden und vielfältig, es sind zwei Enden der Hysterie, die Offenheit
       und die Verschlossenheit, die Angst vor den Vielen, die vor Krieg, Hunger,
       Not flohen, und die Angst vor den Viren, die auf jeder Türklinke sein
       konnten, an jedem Glas, in der Luft, die du atmest; das Verbindende ist
       diese Angst, das Verbindende ist aber auch die Hoffnung, das Neue, der
       Aufbruch und das Aufwachen, dieser Blick auf uns, wie wir sind, und uns,
       wie wir sein könnten.
       
       Beide Jahre waren Krisenjahre und Chancen zugleich – und 2015 war ja
       tatsächlich ein Triumph der Bürgerinnen und Bürger als Menschen, die
       handelten, die sich als die begriffen, die die Hand ausstrecken und helfen
       und nicht warten, bis jemand kommt und ihnen sagt, was sie zu tun haben; im
       Gegenteil, es war die Politik, die viele der Probleme schuf, die sie dann
       selbst wieder zu lösen vorgab, diese Art von demokratischer Autosuggestion,
       die leider sehr schädlich ist für die politische Praxis und für den
       Zusammenhalt und das Vertrauen in diesem Land.
       
       ## Von Krisengipfel zu Krisengipfel
       
       Ich will nicht sagen, dass es dieses Mal genauso war, genauso ist; ich will
       das wirklich nicht sagen: Aber so richtig gelungen ist das eben nicht, was
       die handelnden Akteur*innen da tun. Sie hangeln sich, wie die
       Zeit-Online-Journalistin Vanessa Vu neulich in der Talkshow von Anne Will
       sagte, von Krisengipfel zu Krisengipfel, weil das die Form von
       Kompromisserzeugung ist, die seit Jahren gelernt ist – und wenn man sie
       darauf anspricht, auf die fehlenden Konzepte für die Schulen und die
       mangelnden Tests, immer noch, und auf den bleibenden Schaden, den sie mit
       ihrer Kulturverachtung gezeigt haben, dann stecken sie die Köpfe zusammen
       und sind sich auf einmal einig, dass das so sei, in unserer Demokratie, und
       die, die es besser geschafft haben, die seien eben keine Demokratien.
       
       Was in doppelter Weise schädlich ist. Sie wollen nicht nur nicht lernen von
       den Erfahrungen anderer Länder, in Taiwan etwa, in Südkorea, Japan oder
       Vietnam, sie stilisieren unsere Form von politischer Praxis als kaum
       hinterfragbar und schaden damit gleichzeitig dem Vertrauen in genau diese
       Praxis, die ja so offensichtlich defizitär ist, wenn es darum geht, etwa
       die Menschen zu schützen, denen die Verantwortung gilt. Etwas Rassismus mag
       auch dabei mitschwingen: „Asien“ eben – vor allem aber eine mittlerweile
       tief verwurzelte Unfähigkeit zu lernen, die Augen aufzumachen für die
       Erfahrungen der anderen.
       
       Corona also wäre wie die Ankunft der Geflüchteten einerseits die große
       Chance, die Grundlagen dieses Landes neu zu definieren, die demokratischen
       Prozesse, die konkrete politische Arbeit, die gesellschaftlichen
       Prioritäten, Lohn, Wertschätzung, die Prämissen jenseits von [1][Kapital
       und Wertschöpfung], die das Fundament bilden könnten für ein anderes
       Verständnis von Gemeinwohl und Gemeinsamkeit, Empathie und Zugehörigkeit –
       aber wie 2015 kann es genauso gut sein, dass der positive Möglichkeitsraum,
       den die Krise eröffnet hat, verspielt wird und, schlimmer noch, besetzt
       wird von den Agenten der Angst.
       
       ## Doppelbelichtung politisch-institutionellen Versagens
       
       Es zeigt sich dabei, wie damals, dass die Gesellschaft weiter ist, offener,
       flexibler, hilfsbereiter als die Institutionen, die diese Gesellschaft
       abbilden sollen, die ihrem Funktionieren dienen sollen – mit Ausnahmen,
       natürlich; generell aber hat auch diese Krise bislang eher gezeigt, wie
       schwer es ist, gegen die Kräfte der Beharrung anzugehen, von der Agrarlobby
       über die Autolobby bis zur Autobahnlobby. Und so etwas wie der Kampf um den
       Dannenröder Wald ist damit eine Doppelbelichtung politisch-institutionellen
       Versagens, weil mit Verweis auf die Vollzugszwänge gerade von eigentlich
       hypothetisch zukunftsoffenen Grünen die Variation des Gegebenen als
       unmöglich vorgeführt wird.
       
       Wie soll man aber in so einer Lage noch darauf vertrauen, dass große und
       grundlegende Veränderungsprozesse von den bekannten Akteur*innen der
       politischen Praxis angegangen werden? Eine gewisse Apathie prägt die
       Szenerie, in der vor allem alte Ideen aufeinandertreffen, eine
       1990er-Jahre-Form von Marktliberalismus etwa und eine 1990er-Jahre-Form von
       Sozialdemokratie. Das Jahr ist noch nicht vorbei, und die Möglichkeiten
       eines neuen ökologischen Plans, einer Neubewertung gesellschaftlicher und
       [2][ökonomischer Prioritäten] gibt es immer noch.
       
       Vielleicht muss der Anschub, wie 2015, aus der Gesellschaft selbst kommen;
       vielleicht braucht es ungewöhnliche Allianzen, die einen
       Transformationsplan wie den Green New Deal mit den grundsätzlichen Fragen
       nach Wachstum, Gerechtigkeit, Rassismus verbinden. Vielleicht kann der
       Kampf gegen die [3][Klimakatastrophe] aus den Lektionen der Coronakrise
       Inspiration und Energie beziehen.
       
       Eine andere Welt ist möglich. 2021 wäre ein gutes Jahr, um das 21.
       Jahrhundert auch in Deutschland zu beginnen.
       
       10 Dec 2020
       
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