# taz.de -- Corona-Lage in anderen Metropolen (I): Trübe Aussichten am Bosporus
       
       > Istanbul droht ein erneuter harter Lockdown. Doch wie dramatisch die Lage
       > ist, bleibt unklar: Offizielle Zahlen fehlen.
       
 (IMG) Bild: Die Pandemie ist allgegenwärtig in Istanbul
       
       Istanbul taz | Es sind trübe Herbsttage am Bosporus. Neben dem Wetter
       schlägt die Coronasituation auf die Stimmung. Die offiziellen
       Beschwichtigungen, es sei alles noch unter Kontrolle, werden schon längst
       nicht mehr geglaubt, nicht zuletzt, weil die erlebte Realität eine ganz
       andere ist. Für die meisten Menschen in Istanbul rücken die Einschläge
       bedrohlich näher.
       
       Jeder kennt mittlerweile mit Corona infizierte Menschen in seiner direkten
       Umgebung. Sei es die Tochter des Nachbarn oder der Elektriker um die Ecke,
       die Gefahr ist konkret und für jeden sichtbar. Die Straßen sind zwar immer
       noch voll, aber niemand geht mehr ohne Maske aus dem Haus. Die
       Maskenpflicht wird mehr oder weniger akzeptiert: Wer einen Laden betreten
       will muss eine Maske tragen und seine Temperatur messen lassen.
       
       Nachdem der Sommer auch in Istanbul relativ entspannt war, stiegen die
       Zahlen der Corona-Infizierten ab Anfang September wieder steil an. Ende
       September stoppte die Regierung dann einfach die Bekanntgabe der Zahlen.
       Seitdem gibt des Gesundheitsministerium täglich nur noch die Anzahl der
       „wirklich Erkrankten“ Personen in der gesamten Türkei bekannt, nicht mehr
       die Zahl der positiv getesteten Menschen.
       
       Die Anzahl der „wirklich Erkrankten“ pendelt seitdem um die 2.000, doch
       selbst diese Angaben sind geschönt, sagt die Ärztekammer. Die meisten
       Intensivbetten in den türkischen Großstädten sollen auch bereits wieder
       belegt sein, genaues weiß aber niemand, weil die Regierung dazu keine
       Informationen veröffentlicht.
       
       Besonders dramatisch ist die Lage in Istanbul. Fast die Hälfte aller
       positiv Getesteten leben am Bosporus, wie selbst Gesundheitsminister
       Fahrettin Koca zugibt. Laut Experten muss man die Zahl der Erkrankten
       mindestens mit 20 multiplizieren um einen realistischen Blick auf die
       Infektionszahlen zu haben.
       
       In einem lichten Moment riet Koca den IstanbulerInnen deshalb: „Gehen Sie,
       wenn immer möglich, nicht mehr aus dem Haus“. Offiziell sind bislang nur
       Menschen über 60 gehalten im Haus zu bleiben; sie dürfen nur noch zwischen
       10 und 16 Uhr einkaufen gehen. Cafes und Kneipen müssen um 22 Uhr
       schließen, aber alle rechnen damit, dass bald wieder ganz Schluss ist.
       
       Der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu hat am Wochenende von der
       Regierung in Ankara einen Lockdown für Istanbul gefordert, weil die Zahlen
       so dramatisch seien. Und auch der wissenschaftliche Expertenrat hat der
       Regierung empfohlen, Istanbul, wie schon einmal im Frühjahr, wieder ganz
       dicht zu machen. Dann darf niemand mehr die Stadt verlassen und niemand
       mehr einreisen – was aber sowieso jeder vermeidet.
       
       Damit die Wirtschaft nicht völlig zusammenbricht wird das Arbeitsleben
       aufrechterhalten und wie überall sind es vor allem diejenigen, die nicht
       von zu Hause aus arbeiten können, die sich am häufigsten infizieren.
       Gewerkschafter sprechen davon, dass die Zahl der Infizierten unter den
       Arbeitern doppelt so hoch ist wie im Durchschnitt.
       
       Übertroffen wird dies nur noch durch die schlimme Situation in den ganz
       armen Vierteln der Stadt. Dort, wo auch die meisten Flüchtlinge aus Syrien,
       Irak und Afghanistan untergekommen sind, soll die Lage dramatisch sein.
       Doch auch hier weiß niemand etwas Genaues. Aus politischen Gründen wird die
       Istanbuler Stadtverwaltung daran gehindert, dort Hilfe zu leisten. Das sei
       ausschließlich Sache der Zentralregierung, heißt es aus Ankara.
       
       Weil die Aussichten so trübe sind, versuchen die Medien mit Nachrichten aus
       Deutschland gegenzusteuern. Das deutsch-türkische Forscherpaar von
       Biontech, Ugur Sahin und Özlem Türeci, wird breit gewürdigt. Angeblich soll
       Sahin gesagt haben, er werde sich dafür einsetzen, dass die Türkei auch zu
       den ersten gehört, die den Impfstoff bekommen.
       
       16 Nov 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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