# taz.de -- Dokufilm über Roma im Holocaust: Leben spiegeln
       
       > Der Dokufilm „Contemporary Past – Die Gegenwart der Vergangenheit“ nähert
       > sich dem Holocaust aus der Perspektive von Sinti und Roma.
       
 (IMG) Bild: „Contemporary Past – Die Gegenwart der Vergangenheit“ – Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma in Buchenwald
       
       Über den Holocaust sind bereits viele gewaltige Dokumentarfilme gemacht
       worden, die dessen Geschichte nacherzählt, analysiert, dargestellt, in
       Erinnerung gebracht haben. „Contemporary Past“ versucht einmal einen
       anderen Blickwinkel auf die Geschichte, indem sich dieser Film der
       Gedenkstätten annimmt, die an das Vergangene erinnern, und sich die Frage
       nach dem Kontinuum stellt, das die Gegenwart mit der Vergangenheit
       verbindet und verbinden kann.
       
       [1][Regisseur Kamil Majchrzak] nähert sich diesem Thema durch drei
       Erzählstränge: zum einen begleitet er Jugendliche aus Polen, Rumänien und
       Deutschland, die gemeinsam einige Wochen in der [2][Gedenkstätte
       Buchenwald] verbringen und sich dort mit deren Geschichte beschäftigen,
       zum anderen gibt es längere Interviewpassagen mit Rita Prigmore, die in
       der Universitätsklinik Würzburg geboren wurde und an der experimentelle
       Operationen vorgenommen wurden. In einem dritten Erzählstrang widmet sich
       Majchrzak von Verfolgung betroffenen Sinti und Roma, die ihre jeweilige
       Heimat verlassen und in Deutschland Asyl beantragen mussten.
       
       Die Jugendlichen haben unterschiedlichste Motive, überhaupt an dieser Reise
       teilzunehmen, nur wenige davon sind politischer Natur. Für sie ist die
       Reise ins KZ auch ein Urlaub, auf dem sie Sightseeing-Ausflüge machen und
       eine gute Zeit haben wollen. Zentral sind im Film allerdings die
       Reifungsprozesse dieser Jugendlichen abgebildet, die sich im Lager damit
       beschäftigen, weshalb überhaupt und wie systematisch Menschen eingesperrt
       und ermordet worden sind. Das ist anhand von reinen Tabellen und
       Statistiken nicht machbar, sondern es müssen Parallelen zwischen der
       Vergangenheit und der Gegenwart gebaut werden.
       
       ## Jahrzehntelanger Kampf um Anerkennung
       
       In „Contemporary Past“ knüpft an diese Perspektive Rita Prigmore an, die
       von ihrem Leben erzählt, der Ausmerzung ihrer Familie, dem Tod ihrer
       Zwillingsschwester durch medizinische Versuche und dem nachfolgenden,
       jahrzehntelangen Kampf um Anerkennung als Opfer des NS-Staats. Es wirkt,
       als hätte die Ausgrenzung der „Zigeuner“ nach 1945 nie aufgehört.
       
       Schließlich stellt der Film auch die Brücke zu Sinti und Roma der Gegenwart
       her, die derzeit in Deutschland leben, weil sie ihre europäischen
       Heimatorte verlassen mussten, an denen sie von staatlicher Seite
       strukturell verfolgt, diskriminiert und entrechtet wurden. Doch ist es für
       sie schwer, politisches Asyl zu erhalten, allein wenn man einer ethnischen
       Minderheit angehört.
       
       Trotz des bedrückenden Themas halten sich Düsternis und Bedrohlichkeit im
       Film in Grenzen. Besonders anhand der Jugendlichen schildert „Contemporary
       Past“, wie Dokumente der Vergangenheit neue Perspektiven auf das eigene
       Leben ermöglichen: Die Jugendlichen müssen sich im Lager als Archäologen
       betätigen, die Artefakte in einen ausstellungsfähigen Zustand versetzen.
       Dabei wird die Scherbe eines zerbrochenen Keramikbechers entdeckt, in die
       ein Name geritzt wurde. Tatsächlich gibt es zu diesem eine Karteikarte mit
       Foto.
       
       ## Skizze eines ausgelöschten Lebens
       
       Fragmenthaft entsteht so die Skizze eines Lebens vor ihren Augen, das
       willkürlich in der Ermordung in einem Konzentrationslager ausgelöscht
       wurde. Darüber gelingt es ihnen, ihre eigenen Leben mit denen der ansonsten
       namenlosen Toten zu spiegeln und Zusammenhänge zu sehen, die ihnen sonst
       verschlossen blieben.
       
       Und wie es der Zufall will, erscheint dieser Film zu einem Zeitpunkt, an
       dem das [3][Denkmal für Sinti und Roma am Brandenburger Tor] in Berlin zur
       Disposition steht, weil es einem S-Bahn-Bau im Weg ist. Jahrzehntelang
       wurde darum gerungen, bis es schließlich vor acht Jahren gebaut werden
       konnte. Und nun soll es, zumindest für einige Jahre, abgerissen werden. Von
       diesen Planungen erfuhren die Betroffenen erst aus den Zeitungen, sie
       waren weder involviert noch überhaupt kontaktiert worden.
       
       „Contemporary Past“ zeigt auf, dass Diskriminierung kein zeittypisches
       Thema ist, sondern eine Struktur, ein Denken und eine mentale Kultur, die
       sich unentwegt fortsetzt und nie eine Ende findet.
       
       1 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Erinnerungpolitik-in-Europa/!5664037
 (DIR) [2] /75-Jahre-Befreiung-von-Buchenwald/!5711225
 (DIR) [3] /Konflikt-um-Sinti-und-Roma-Mahnmal/!5693664
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Freerix
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Dokumentarfilm
 (DIR) Holocaust-Mahnmal
 (DIR) Sinti und Roma
 (DIR) Buchenwald
 (DIR) Mode
 (DIR) Euthanasie
 (DIR) Jüdisches Museum Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Doku über Designer: Das Enigma Martin Margiela
       
       Regisseur Reiner Holzemer hat den Designer für sein Filmporträt „Martin
       Margiela – Mythos der Mode“ vor die Kamera bekommen – teilweise.
       
 (DIR) Forscher über „Euthanasie“-Deportationen: „Kontakt zu Angehörigen schützte“
       
       Vor 80 Jahren verließ der erste „Euthanasie“-Transport Hamburg. Von 6.000
       vor dort deportierten Menschen ermordete das NS-Regime über 4.700.
       
 (DIR) Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin: Von Karl Marx bis Amy Winehouse
       
       Die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin zeigt das Unerwartete
       und ist keine Geschichtsstunde im herkömmlichen Sinn. Ein Rundgang.