# taz.de -- Soziologin über 60 Jahre Pille: „Kein emanzipatorisches Projekt“
       
       > Am 18. August 1960 kam die Pille auf den Markt. Sie brachte Frauen die
       > sexuelle Befreiung – doch die Interessen dahinter waren andere.
       
 (IMG) Bild: Raschel, klick, Pille raus, Pille rein
       
       taz: Frau Schultz, vor genau 60 Jahren am 18. August 1960 kam in den USA
       die Pille auf den Markt. Das hat das Leben von Frauen revolutioniert. War
       von Anfang an klar, welcher Siegeszug das werden würde? 
       
       Susanne Schultz: Nein, die Pille wurde sehr verhalten eingeführt. Ich finde
       aber interessant, was Siegeszug hier genau heißt. Geht es um die
       Markteroberung oder den sexuellen Aufbruch? Letzterer kann ja nicht nur auf
       eine technisch neue Verhütungsoption zurückgeführt werden.
       
       Immerhin konnten Frauen sich ohne Angst vor Schwangerschaft auf Sexualität
       einlassen. 
       
       Sicher, das hat einiges ermöglicht, zusammen mit vielen anderen
       Verhütungsmethoden. Motor für die Entwicklung und Einführung der Pille war
       aber ein sehr komplexer Zusammenhang von pharmazeutischen, bevölkerungs-
       und sexualpolitischen Interessen.
       
       Welcher? 
       
       Die Verhütungshormonforschung seit den 1920er Jahren war stark geprägt von
       der Idee, nichtweiße und deviante Körper von der Fortpflanzung abzuhalten.
       Das zeigt sich auch in der Geschichte der wichtigsten Hormonforscher. So
       hat Carl Clauberg, ein deutscher Gynäkologe, für den Pharmakonzern Schering
       in den 20er und 30er Jahren zunächst wichtige Erkenntnisse über das
       Geschlechtshormon Gestagen erlangt und die Basis für die ersten künstlichen
       Sexualhormone gelegt. Später hat er im Auftrag von Heinrich Himmler mit
       Hunderten Frauen grausame Experimente in Auschwitz durchgeführt, indem er
       ihnen ein chemisches Mittel in die Eileiter spritzte, um sie zu
       sterilisieren. Der Konzern Schering, der Clauberg finanzierte und später
       die erste Pille in Deutschland auf den Markt brachte, hat diese Experimente
       auch nach dem Krieg weiter gerechtfertigt.
       
       Wurde die Pille nicht auch maßgeblich in den USA entwickelt? 
       
       Auch diese Forschung war in eine antinatalistische Programmatik
       eingebunden. Margaret Sanger, die die Entwicklung der Pille finanziell
       unterstützt hat, war Frauenrechtlerin, zugleich aber überzeugte
       Eugenikerin. John Rock und Gregory Pincus, die als „Väter der Pille“
       gelten, machten ihre Forschungen auf der Insel Puerto Rico, die als
       Quasikolonie den USA schon länger als lebenswissenschaftliches Laboratorium
       diente. Sie testeten hier hoch dosiert die Pille an Frauen in einer
       Vorstadt von San Juan. Es handelte sich um Fabrikarbeiterinnen, die zu
       Hause engmaschig kontrolliert wurden. Viele von ihnen beklagten
       Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindel. Zudem wurden die Hormone dieser
       ersten Pille, „Enovid“, die 1960 in den USA auf den Markt kam, an
       Psychiatrieinsassinnen getestet – und übrigens auch an Männern in einem
       Gefängnis, um zu sehen, ob deren „homosexuelle Neigungen“ verringert
       würden.
       
       Wie wurde die Pille schließlich vermarktet? 
       
       Die Markteinführung hierzulande war von moralischer Absicherung geprägt. Im
       postfaschistischen und sexualfeindlichen Deutschland war die Legitimation
       von Sexualität auf die Ehe ausgerichtet. Im Expertendiskurs der 50er und
       60er Jahre von zumeist männlichen Ärzten und Politikern über die Pille ging
       es viel darum, globale Überbevölkerung zu bekämpfen, zum Teil auch
       Abtreibung zu verhindern – Letzteres auch ein Versuch, die katholische
       Kirche einzubinden. Das hat nicht geklappt: Der Papst gab in seiner
       Enzyklika „Humanae Vitae“ 1968 vor, dass Sexualität grundsätzlich auf
       Fortpflanzung ausgerichtet sein müsse.
       
       Wie ist Schering also vorgegangen? 
       
       Der Konzern traute sich anfangs nicht einmal, „Anovlar“ – so hieß die erste
       Pille in der BRD – als Verhütungsmittel zu bewerben, sondern pries es als
       Mittel gegen Menstruationsbeschwerden an. Die empfängnisverhütende Wirkung
       wurde nur beiläufig beschrieben: „Während der künstlichen anovulatorischen
       Zyklen tritt keine Konzeption ein.“ In den ersten Jahren bekamen die Pille
       nur verheiratete Frauen über 30 mit mindestens zwei Kindern, um
       Promiskuität entgegenzuwirken. Der gesellschaftliche Um- und Aufbruch Ende
       der 60er Jahre führte schließlich zu einer Lockerung. In den 70ern
       verhüteten schon 30 Prozent der Frauen mit der Pille. In der DDR wurde
       übrigens die erste Pille, „Ovosiston“, die ab 1965 verfügbar war und auch
       bis Anfang der 70er Jahre enorm schnell an Bedeutung gewann,
       „Wunschkind-Pille“ genannt.
       
       Wie hat die Frauenbewegung in der BRD die Pille wahrgenommen? 
       
       Ambivalent. Sich sexuell ausleben zu können, ohne auf Heirat und
       Kinderkriegen reduziert zu werden, war der Bewegung extrem wichtig. Aber
       zur Pille gab es ein mehrfaches Unbehagen. Zum einen haben schon früh die
       medizinkritischen Selbsterfahrungs- und Selbstuntersuchungsgruppen die
       Pille als patriarchale Veranstaltung kritisiert. Die frühen Pillen waren
       hoch dosiert, und es war klar, dass sie Krebsrisiken mit sich brachten,
       auch Gewichtszunahme, Depressionen oder sexuelle Lustlosigkeit.
       
       Worauf zielte die Kritik noch? 
       
       Die feministische Gesundheitsbewegung fragte innerhalb des sexuellen
       Aufbruchs auch: Wollen wir überhaupt ständig verfügbar sein? Kann Heterosex
       auch etwas anderes sein als vaginaler Penetrationssex? Und was muten wir
       unserem Körper dafür zu? Warum nicht lieber Temperatur messen oder das
       Diaphragma und Kondome nutzen? Dann muss Sexualität anders besprochen
       werden. Und es muss das Recht auf Abtreibung als Back-up geben, was im
       parallelen Kampf gegen den Paragrafen 218 Thema war. Das Recht auf den
       eigenen Körper, auf Gesundheitswissen und selbstbestimmte
       Gesundheitspraktiken war ein enorm wichtiges feministisches Thema.
       
       Hat die Pille nicht gerade geholfen, emanzipatorische Sexualität zu leben? 
       
       Die Pille als solche halte ich nicht für ein emanzipatorisches Projekt.
       Aber die Frage ist ja immer, wer sich Technologien wie aneignet. Sicher
       wurde und wird die Pille auch dafür genutzt, sich frei ausprobieren zu
       können, auch ohne immer die fruchtbaren Tage zu berechnen oder eine
       Portiokappe reinbasteln zu müssen. Außerdem ist Heterosex ja nicht immer
       eine dialogisch-kooperative Veranstaltung, und hegemoniale sexuelle
       Praktiken ändern sich auch nicht so einfach.
       
       Heute ist die Pille das meistverbreitete Verhütungsmittel in Deutschland
       noch vor dem Kondom. Offizielle Zahlen und Kausalitäten von Thrombosen,
       Lungenembolien und der Pille gibt es nicht. Aber eine
       Aktivistinnen-Initiative listet 62 Tote durch Thrombose hierzulande auf,
       967 Tote in den USA. Warum wird die Pille trotzdem weitgehend unkritisch
       verschrieben und genommen? 
       
       Heute ist etabliert, dass Frauen für Verhütung zuständig sind und die
       Nebenwirkungen von Hormonen auf sich nehmen. Die alte kritische Frage, wie
       wir Sex anders leben können und warum es immer die Frauen sind, die von der
       Verhütung gesundheitlich beeinträchtigt werden, steht kaum mehr im Zentrum
       von Bewegungen. Das liegt auch daran, dass die Pharmaindustrie ein
       Interesse daran hat, Methoden durchzusetzen, die teuer und technologisch
       sind – anstelle von Praktiken, die einfacher und weniger schädlich sind.
       Dafür müssen immer neue Konsumentinnenschichten erschlossen werden, etwa
       junge Frauen, deren Haut und Haar durch die Pille schöner werden soll. Das
       sind kapitalistische Logiken.
       
       Was weiß man über die Thromboserisiken? 
       
       Bekannt ist, dass genau die Pillen, die speziell für junge Frauen
       vermarktet werden, ein höheres Thromboserisiko haben als die der vorherigen
       zweiten Generation. Geworben wird aber wie für ein Lifestyleprodukt. In den
       USA hat die Bayer AG, die Schering in den 2000ern übernommen hat, mehr als
       2 Milliarden Dollar Entschädigung an Klägerinnen gezahlt, die durch
       Thrombosen und Lungenembolien zum Teil schwer geschädigt wurden.
       Hierzulande ist ein Prozess gegen Bayer momentan in der zweiten Instanz.
       
       Könnte [1][die Pille für den Mann] eine Alternative sein? 
       
       Hormonelle Forschung an Männern wird stark mit Sexualität und Virilität in
       Verbindung gebracht, die an Frauen von Anfang an mit der Begrenzung von
       Fortpflanzungsmöglichkeiten. Dazu kommt, dass die Pharmaindustrie in
       Variationen des Immergleichen investiert und keine großen Risiken eingeht.
       Es gibt zwar immer wieder Versuche, hormonelle Verhütung für den Mann zu
       entwickeln, aber ohne Ergebnis. So hat die WHO 2011 ein solches Projekt
       vorzeitig abgebrochen, weil Männer in den klinischen Studien über
       Stimmungsschwankungen, Libidoverlust und Akne klagten. Ich sage nicht, dass
       Männer das durchmachen sollten. Aber es ist schon eine Frage, warum davon
       ausgegangen wird, dass Frauen gesundheitliche Risiken der Pille mitmachen
       müssen.
       
       18 Aug 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Die-Pille-fuer-den-Mann/!5525508/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Patricia Hecht
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Verhütung
 (DIR) Medizin
 (DIR) Verhütungspille
 (DIR) IG
 (DIR) Verhütung
 (DIR) Anti-Baby-Pille
 (DIR) Westafrika
 (DIR) Pharmaindustrie
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Gründerinnen von „Better Birth Control“: „Es wurde jahrelang totgeschwiegen“
       
       Verhütung ist meist Frauensache, auch weil es an Alternativen zur Pille
       fehlt. Rita Maglio und Jana Pfenning wollen mit der Kampagne „Better Birth
       Control“ helfen.
       
 (DIR) 60 Jahre Pille: Der ferngesteuerte Körper der Frau
       
       Seit 1960 nehmen Frauen die Pille. Zur Verhütung. Gegen Schmerzen. Für
       schöne Haut. Viele setzen sie wieder ab. Drei Protokolle.
       
 (DIR) Aufklärung und Verhütung in Westafrika: Redet endlich über Sex!
       
       Sexualkunde steht in vielen afrikanischen Ländern nur selten auf dem
       Lehrplan. Ngunan Ioron Aloho besucht Schulen und spricht über das
       Tabuthema.
       
 (DIR) Klage gegen Bayer: Fatale Nebenwirkungen
       
       Felicitas Rohrer klagt gegen den Pharmakonzern. Sie nahm die Antibabypille
       Yasminelle und wäre deswegen beinahe gestorben. Sie ist kein Einzelfall.