# taz.de -- Maskenpflicht bei Wladimir Putin: Im Zickzack gegen Corona
       
       > Erst hatte Russland die Gefahr geleugnet. Dann kamen scharfe
       > Beschränkungen. Jetzt sind diese teilweise aufgehoben.
       
       Als Alexander die Anordnung erhielt, seine Hotelanlage zu schließen, wusste
       er, dass das nicht unbedingt das Ende bedeuten müsste. Die Häuschen gehören
       ihm, die Boote auch, laufende Kredite gab es keine. „Okay“, sagte er sich
       und seinen Leuten, „das müsste gehen. Wir werden es schaffen. Denn wir
       hängen von niemandem ab.“ Das Papier der Verwaltung der [1][Region
       Wologda], einem geschichtsträchtigen Flecken im Nordwesten Russlands,
       verhieß nichts Gutes für seinen Betrieb: Isolation aller, die von anderswo
       kommen, Ausgangsbeschränkungen, Checkpoints an den Ein- und Ausfallstraßen
       der Region, elektronische Ausweise für die Einreise, Schließung aller
       Restaurants und Beherbergungsbetriebe, Dienstleistungen nur auf Sparflamme.
       Coronaquarantäne nannten es die Beamten.
       
       Russland hatte zu dem Zeitpunkt offiziell 1.036 mit dem neuartigen
       Coronavirus Infizierte. Die Region Wologda keinen einzigen.
       
       Alexander lebt vom Tourismus, er lebt vom Fisch, den er seinen Gästen
       verkauft, von Leihgebühren für die Angelausrüstung und die
       Tretbootvermietungen. Er, der zu Sowjetzeiten als Sportlehrer an der
       örtlichen Schule arbeitete, ist keiner, der so schnell den Kopf hängen
       lässt. Alexander führt das Wort „aufgeben“ nicht in seinem Wortschatz.
       
       Im März schloss Alexander sein kleines Hotel, bestehend aus acht
       holzvertäfelten Zimmern mitsamt dreier Häuschen direkt am Belosersk-Kanal,
       der einst geschaffen worden war, um die harschen Stürme des Weißen Sees zu
       umfahren. Er wartete ein wenig – und machte weiter. Ließ sich Genehmigungen
       für Dienstreisen vorlegen (dafür durften die Hotels auch in der Quarantäne
       öffnen), ließ später nur Familien in die Zimmer. Es lasse sich immer ein
       Weg finden, sagt er am Ufer des Kanals, nachdem er gerade einem Gast bei
       der Reparatur seines Boots geholfen hat.
       
       ## Am Anfang wurde die Gefahr geleugnet
       
       Coronavirus? „Haben wir im Griff“, hatte die russische Regierung im März
       gesagt, als die Pandemie das Land zu erfassen begann und die Zahlen rasch
       nach oben schnellten. Mittlerweile sind sie bei offiziell mehr als 900.000
       Fällen angelangt, mehr als 15.000 Menschen sind verstorben. Doch die Zahlen
       wecken Zweifel. Das Virus sei besiegt, hieß es nach einigen Wochen, als der
       Kreml das wichtigste politische Projekt des Jahres voller Ungeduld zu Ende
       bringen wollte: die sogenannte [2][Annullierung der Amtszeitenbegrenzung]
       von Präsident Wladimir Putin.
       
       Mit der Abstimmung zur Verfassungsänderung, an der Putin lange Zeit
       festhielt, sie schließlich verschob und Anfang Juli, allen Warnungen von
       Epidemiologen zum Trotz, über die Bühne bringen ließ, hat er sich die
       Möglichkeit geschaffen, bis 2036 an der Macht zu bleiben. Doch seit Putins
       Sieg werden jeden Tag offiziell mehr als 5.000 Fälle an Neuinfizierten
       vermeldet, und die Kurve flacht nur sehr langsam ab.
       
       Eine zweite Welle, so wusste der Moskauer Bürgermeister [3][Sergei
       Sobjanin] dann im Juli stolz zu berichten, werde es nicht geben. Im März
       pflegte Russlands Regierungschef [4][Michail Mischustin] noch zu sagen:
       „Die Coronagefahr für Russland ist minimal.“ Später erkrankte er selbst an
       Covid-19.
       
       Nun gibt es einen Impfstoff, [5][Sputnik V] genannt, in Anlehnung an den
       ersten sowjetischen Raumflugkörper 1957. „Wir sind die ersten“, jubelt die
       Regierung. Viele Russ*innen schütteln die Köpfe. „Schrecklich früh, zu
       gefährlich, ein Menschenexperiment“, sagen die Menschen auf der Straße.
       „Bestenfalls ist die Impfung ungefährlich, schlimmstenfalls völlig nutzlos.
       Ich habe nicht vor, sie an mir oder meiner Familie auszuprobieren“, sagt
       ein Moskauer Arzt. Ärzt*innen sollen bereits im Herbst mit Sputnik V
       geimpft werden, lautet der Wunsch des Gesundheitsministeriums.
       
       Es ist diese Diskrepanz, die sich zwischen den markigen Worten der
       Beamt*innen und der Realität zeigt. Kurz nach Mischustins Verlautbarungen
       im März griffen vor allem in der Hauptstadt, dem russischen Hotspot der
       Pandemie, harte Ausgangsbeschränkungen. Spazierengehen verboten, Einkaufen
       im nächstgelegenen Geschäft erlaubt. Autofahren ohne elektronischen
       Passierschein verboten, mit dem Hund Gassigehen erlaubt, aber auch nur 100
       Meter von der Haustür entfernt. Bei Zuwiderhandlung drohten hohe Strafen.
       Strafen waren und sind ohnehin das Wichtigste, worüber der Apparat
       aufzuklären weiß.
       
       Moskau ist mit Kameras übersät, mit Gesichtserkennungstechnologie überprüft
       die Stadt, ob Menschen die Quarantäne einhalten. Jeder Erkrankte muss sich
       eine Pflicht-App installieren. „Soziales Monitoring“ heißt sie und fordert
       auch nachts dazu auf, sich zu melden und zu bestätigen, dass man wirklich
       zu Hause ist.
       
       Warum all die Schutzmaßnahmen nötig sind, verstehen bis heute viele im Land
       nicht. Hatte das Staatsfernsehen nicht noch bis in den April hinein über
       ein Virus gesprochen, an dem nur Chinesen erkrankten oder die Homosexuellen
       in Europa? Hatte es nicht die besondere Genetik der Russ*innen bejubelt?
       Warum waren plötzlich Masken und Handschuhe Pflicht, und was ist überhaupt
       ein Mindestabstand? Hatte Putin nicht von bezahlten Ferien gesprochen?
       Komm, lass uns ans Meer fahren, sagten sich viele und trugen so noch zur
       Verbreitung des Virus im ganzen Land bei.
       
       ## Viele Menschen sind verwirrt
       
       Derweil ließ der Moskauer Bürgermeister ein neues Infektionskrankenhaus am
       Stadtrand errichten und Dutzende von städtischen Kliniken in Coronakliniken
       „umprofilieren“. Und auch Putin, der die Bewältigung der Virusgefahr den
       Regionalfürsten überließ, oft ohne dass diese wussten, was sie mit der
       Entscheidungsfreiheit anfangen sollten, zwängte sich in einen
       quietschgelben Schutzanzug samt Atemschutzmaske und machte klar: „Es ist
       ernst.“ Danach verschwand er in seine Vorstadtresidenz und führte die
       Geschäfte per Videokonferenzen.
       
       Eine klare rechtliche Klärung für den Lockdown fehlte. Die Hauptlast trugen
       vor allem die kleinen und mittleren Betriebe. Vielerorts arbeiteten die
       Menschen in den Putin-Ferien weiter, oft im Untergrund. „Irgendwie muss man
       ja weiterleben“, sagten sie.
       
       Verwirrung ist bis heute das, was die Menschen durch die Coronakrise im
       Land begleitet. Als sich Moskaus Bürgermeister, anfangs noch ein
       knallharter Krisenmanager, die Maskenpflicht auf der Straße aufhob (weil
       ohnehin nahezu niemand einen Mund-Nase-Schutz trug), fielen auch woanders
       die Masken, obwohl in Geschäften, im öffentlichen Nahverkehr und in allen
       öffentlichen Einrichtungen diese Pflicht weiterhin gilt. „Sie können die
       Maske gern absetzen, das Virus ist vorbei“, konnte die Verkäuferin im
       Supermarkt um die Ecke da noch behaupten.
       
       Einige Tage später stellt sich der Wachmann dieses Supermarkts allen
       Hineinkommenden entgegen und ließ keinen eintreten ohne Handschuhe und
       Maske. „Wir werden kontrolliert“, zischt er. „42.000 Passagiere von Metro,
       Bussen und Trams sind seit dem 12. Mai bestraft worden, weil sie das
       Masken-Regime verletzten“, hieß es Anfang August auf allen offiziellen
       Kanälen. „Die Polizeikontrollen gehen weiter.“
       
       Viele tragen die Maßnahmen mit, weil ihnen Bußgelder drohen, nicht weil das
       Verständnis für diese Maßnahmen da ist. Sie geben sich der Lebenshaltung
       „na awos“ hin, Russlands fatalistisches Vertrauen darauf, dass alles schon
       gut gehen werde. Irgendwie. Irgendwann.
       
       ## In der Region Wologda trägt kaum jemand eine Maske
       
       In der Region Wologda würde man nichts vom Virus mitbekommen, hingen da
       nicht hin und wieder Hinweisschilder an den Türen von Cafés oder
       Sehenswürdigkeiten: „Betreten nur mit Maske erlaubt.“ Es sind Regeln auf
       Papier, die Masken hängen den Menschen unterm Kinn. Die Mitarbeiter achten
       nicht darauf, sie haben andere Sorgen. Ihnen fehlt das Personal. Es sind
       vor allem die über 65-Jährigen, die zum Gedeihen der kleinen regionalen
       Museen im Land beitragen. Über 65-Jährige, die nicht mehr zur Arbeit kommen
       dürfen. Risikogruppe.
       
       „Wir sind nur zu zweit hier und müssen alles machen, die Kasse, die
       Führungen, den Bücherverkauf, ein großes Durcheinander“, sagt die
       Museumsmitarbeiterin im Schalamow-Haus in Wologda, das dem Leben und Leiden
       des sowjetischen Dissidenten Warlam Schalamow gewidmet ist. Eigentlich ist
       sie Garderobenfrau. Wie soll sie nur die Kasse bedienen? Und auch noch
       darauf achten, dass die sieben Leute, die gerade im engen Eingang stehen,
       die Distanz zueinander wahren?, fragt sie.
       
       Im Heimatmuseum von Belosersk sind sie ebenfalls zu zweit. Eine rennt den
       Besucher*innen mit den Überschuhen hinterher, die sie anziehen sollen, die
       andere, die immer wieder die Maske hochschiebt, weil diese einfach nicht
       auf der Nase bleiben will, schaut, dass die Besuchergrüppchen sich nicht
       überschneiden, und lotst sie durch die Räume.
       
       Belosersk ist eine Kleinstadt, wie es viele in Russland gibt. Die
       Hauptstraße asphaltiert, die unbefestigten Seitenstraßen voller
       Schlaglöcher. Irgendjemand hat ein paar Backsteine in eine große Pfütze
       geworfen, in der Hoffnung, dass es sich darüber einfacher fahren lässt.
       Verzierte Holzhäuser reihen sich aneinander, am Rande prägen vierstöckige
       Plattenbauten das Straßenbild.
       
       Das Butterwerk hat längst geschlossen, das Brotwerk ebenfalls, auch die
       Leinenweberei und die Fischfabrik sind zu. Nur die Holzproduktion und der
       kleine Hafen bieten noch Arbeit. Und die vielen kleinen und mittleren
       Geschäfte. Die Jugend zieht weg, geht in die Gebietshauptstadt Wologda,
       knapp 200 Kilometer weiter, zieht nach Sankt Petersburg, 700 Kilometer weit
       weg. Auch die fünf Söhne des Selfmade-Hoteliers Alexander haben die Stadt
       am See verlassen, nur einer, der Priester, ist zurückgekehrt.
       
       Belosersk, dieser 9.000-Seelen-Ort, hat seine Geschichte. Das Alter der
       Stadt (bereits im 9. Jahrhundert erwähnt und damit älter als Moskau), die
       zahlreichen Kirchen, auch wenn viele von ihnen in der Sowjetzeit zerstört
       worden sind oder nun verfallen, der Kreml, mag er auch einen Sportplatz auf
       dem Gelände und die Holzzäune entlang des hohen Erdwalls längst eingebüßt
       haben, der Weiße See, der der Stadt den Namen gab und einen regen Handel
       ermöglichte. Auf diese Geschichte sind die Menschen hier stolz und würden
       gerade in diesem „verrückten Virusjahr“, wie sie sagen, gern von den
       Tourist*innen profitieren, die nun im eigenen Land bleiben müssen, weil die
       Grenzen – bis auf wenige Ausnahmen – geschlossen sind.
       
       Die Tourist*innen aber fahren in den Süden, nach Sotschi, ans Schwarze
       Meer, sie fahren weiter nach Karelien nahe Finnland. Alexanders kleines
       Hotel aber profitiert von der Abgelegenheit. „Wir sind gut gebucht, bis ins
       nächste Jahr hinein. Diese Ruhe, diese Natur, genau passend für die
       Stressgeplagten aus Moskau und Petersburg“, sagt er und lacht in die Stille
       hinein. Das nächste Auto holpert über die Schlaglöcher vorbei an der
       Kirchenruine auf den Parkplatz. Alexander begrüßt jeden männlichen Gast mit
       Handschlag, Masken trägt hier niemand. 21 Infizierte meldet die Stadt
       Belosersk offiziell seit dem Ausbruch der Pandemie. Das Virus ist das Virus
       der anderen.
       
       Diese anderen aber sieht Alexander Wanjukow in Moskau Tag für Tag, und das
       seit bald sechs Monaten. Er sieht sie durch seine Brille, die viel zu oft
       beschlägt, spricht mit ihnen durch seine Maske, während er in seinem
       Schutzanzug steckt, den er sich gerade am Anfang der Pandemie am liebsten
       vom Leib gerissen hätte, weil alles so ungewohnt war, so heiß, so
       verschwitzt.
       
       Der 39-Jährige ist leitender Arzt am Moskauer Krankenhaus Nummer 52, einem
       riesigen Bau im Nordwesten der Stadt. Das „52er“ gehörte zu den ersten
       Kliniken im Land, die „umprofiliert“ wurden. Alle Patient*innen sind
       jetzt Coronainfizierte, und aus dem Röntgenchirurgen Wanjukow wurde ein
       Allrounder, zuständig für die Aufnahme, für die Dokumentation der Akten,
       fürs Kaffeekochen, wenn die Mediziner*innen denn überhaupt zum Trinken
       kommen. Ein seltenes Vergnügen.
       
       Das Krankenhaus bleibt bis mindestens Dezember eine Rote Zone. Die 800
       Betten haben sich schnell gefüllt. Die Schutzkleidung lag bereit,
       Ehrenamtliche und Student*innen halfen. Das Personal des „52er“ klagte
       nicht. Moskau, mit all seinen Ressourcen und dem schnellen Durchgreifen der
       Stadtverwaltung, hatte die besten Voraussetzungen im Land für die
       Bekämpfung der Pandemie.
       
       Hier gab es keine Bilder von infizierten Krankenschwestern in Regalen für
       Ordner, ohne Mundschutz, ohne Medikamente, wie es Videos aus Dagestan im
       Nordkaukasus zeigten. Hier gab es keine schnell aufgestellten Zelte vor den
       Krankenhauseingängen und Patient*innen auf den Krankenhausfluren, wie
       russische Medien aus Nowosibirsk in Sibirien berichteten. Hier haben sich
       lediglich die Strukturen aufgelöst, es gibt keine Gynäkolog*innen mehr,
       keine Rheumatolog*innen oder Hämatolog*innen, nur noch
       Corona-Ärzt*innen.
       
       ## Die Corona-Klinik in Moskau füllt sich wieder
       
       Alexander Wanjukow hat zeitweise Zwölf-Stunden-Schichten geschoben, als
       Nicht-Infektiologen sei ihm „die krasseste Belastung mit Schwerstkranken“,
       zum Teil in 24-Stunden-Schichten, wie er erzählt, erspart geblieben. Gerade
       seien etwa 350 Betten mit Coronapatient*innen belegt. Entspannung ist
       eingetreten. „Aber seit einigen Tagen füllt sich die Klinik wieder.“ Die
       meisten Einschränkungen im Land sind aufgehoben, die Menschen fahren in den
       Urlaub, feiern.
       
       Drei Monate war Alexander Wanjukow täglich im „52er“, ohne Pause
       zwischendurch. Hinein in die Schutzkleidung, schwitzen, arbeiten, helfen.
       Manchmal überfällt ihn Hilflosigkeit. „Du gibst alles, setzt Methoden ein,
       die bei so vielen Patienten funktioniert haben, und dann funktionieren sie
       nicht mehr. Du weißt nicht, warum, du kämpft, vergebens. Diese Ohnmacht ist
       so unangenehm.“ Manchmal überkommt ihn ein Schmunzeln vor Rührung, weil die
       Ehrenamtlichen, vor denen er den Hut ziehe, wie er sagt, von einem Gebäude
       ins nächste laufen, weil hier der Ehemann lag und dort die Ehefrau – ohne
       voneinander zu wissen.
       
       Seine eigene Familie hatte sich für drei Monate auf die Datscha
       zurückgezogen. Sein vierjähriger Sohn habe ihm am Telefon erzählt, wie er
       mit seinem selbst erfundenen Antiviren-Blaster dem Coronavirus den Garaus
       mache und dass er jedem auf der Straßen darauf hinweise, die Maske auch
       richtig aufzusetzen, berichtet Wanjukow. „Damit mein Papa bald wieder nach
       Hause kommt.“
       
       Mittlerweile ist die Familie wieder vereint, die strenge Moskauer
       „Selbstisolation“ ist längst überstanden, die Menschen sitzen in Cafés, sie
       tanzen in den Parks, sie zwängen sich in die überfüllte Metro. „Mich
       überkommt Enttäuschung, manchmal Verbitterung, wenn ich sehe, dass nahezu
       niemand mehr auf irgendetwas achtet“, sagt Alexander Wanjukow. Er weiß,
       dass er am nächsten Tag wieder in die „Rote Zone“ wird gehen müssen.
       
       17 Aug 2020
       
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