# taz.de -- Bewerbung als Kulturhauptstadt: Traumatisiert, aber cool
       
       > Einst prägte Magdeburg europäische Geschichte, später war es ein
       > Industriestandort. Ihr historischer Teil ging im sozialistischen
       > Wohnungsbau unter.
       
 (IMG) Bild: Blick auf Magdeburg
       
       Auf Distanz wirkt Lutz Trümper wie ein Maschinenbauer, der früher mit Stahl
       hantiert hat. Sein Gesicht scheint von der Arbeit zerfurcht. Steht der
       Magdeburger Oberbürgermeister aber vor einem, verströmt er Eleganz, und das
       liegt nicht nur an dem knitterfreien Hemd und dem getrimmten Haar. Lutz
       Trümper, bald 65 Jahre alt, ist das Aushängeschild seiner Stadt. Magdeburg,
       eine Stadt mit vielen Gegensätzen. Einst prägte es europäische Geschichte,
       heute aber ist die Stadt mit 237.000 EinwohnerInnen kaum bekannt.
       
       Das Zentrum heißt Altstadt, ist inzwischen jedoch voller Plattenbauten, und
       trotzdem präsentiert es sich zur Elbe hin mit einer mittelalterlichen
       Silhouette. Magdeburg hat einen florierenden Hafen, obwohl die Elbe wegen
       Wassermangels kaum noch Schiffe trägt. Das historische Magdeburg ging nach
       1945 im sozialistischen Städtebau verloren, lässt aber immer wieder sein
       Antlitz aufblitzen. Widersprüche wie bei Trümper. Der ist für die SPD in
       Magdeburg so etwas wie ein Leuchtturm, trotzdem trat er einmal für fast
       zwei Jahre aus der Partei aus.
       
       Gerade noch hat der Bürgermeister über den schwächelnden Windanlagenbauer
       Enercon geredet, der Magdeburg jahrelang zu Aufschwung verhalf, jetzt
       blättert er in seinem Amtszimmer, wo die Bogenfenster bis zum Boden
       reichen, in einer Werbebroschüre. Nein, kein Hochglanz, Magdeburg
       präsentiert sich hier als traumatisierte, aber „coole“ Stadt. Es ist das
       erste Bid Book, das Bewerbungsbuch für die europäische Kulturhauptstadt
       2025. Ein nächstes wird bald folgen, Magdeburg hat die entscheidende Runde
       erreicht.
       
       Die Bewerbung als Kulturhauptstadt eröffne Möglichkeiten, sagt Trümper mit
       samtenem Bass. „Die Leute werden mobilisiert, sie entwickeln Projekte, es
       gibt Effekte für die Stadt, insbesondere für die Stadtentwicklung.“ Kurzum:
       „eine Riesenchance“.
       
       ## Griff nach europäischem Titel
       
       So eine Chance bekam die Stadt an der Elbe das letzte Mal 1990. Damals
       bestimmte der neue Landtag überraschend Magdeburg zur Hauptstadt von
       Sachsen-Anhalt, nicht das prominentere Halle. Halle hat sich auch ohne
       dieses Privileg gemacht, doch was wäre Magdeburg ohne „Landeshauptstadt“?
       
       Und nun der Griff nach dem europäischen Titel. Chemnitz, auch noch im
       Rennen, dürfte stärkster Konkurrent sein, vermutet Trümper. Der Mann, kein
       Stahlbauer, sondern Naturwissenschaftler, ist umgeben von Gemälden und
       Plastiken, die von der Bedeutung Magdeburgs künden – der Dom, dem ersten
       gotischen in Deutschland, Kaiser Otto I., der diese Stadt zur
       Lieblingspfalz erhob, und Bürgermeister Otto von Guericke, der mit den
       Magdeburger Halbkugeln die Wirkung des Luftdrucks demonstrierte. Hier in
       Trümpers Büro manifestiert sich das Idealbild Magdeburgs. Was fehlt, sind
       die Feuersbrünste, Plünderungen und Bomben, die die Stadt brachial
       umgepflügt haben, zuletzt und am gründlichsten im Januar 1945.
       
       Magdeburg will auf dem Stadtmarsch bauen, einer Elbinsel, erzählt Trümper
       noch. Beste Wohnlage, insgesamt 3,5 Hektar, derzeit Kleingärten und
       Wildwuchs, mitten in der Stadt und doch im Grünen, mit großartigem Blick
       auf die Altstadt. Dagegen regt sich Widerstand. Es gibt Streit, ob das
       Areal bereits Teil des Stadtparks Rotehorn ist.
       
       Kritiker fürchten um die grüne Lunge. Befürworter freuen sich, dass ein
       Projekt Wirklichkeit wird, das Stadtbaurat Bruno Taut, Visionär des Neuen
       Bauens, bereits vor hundert Jahren entwickelt hatte. Der Plan passt perfekt
       in die Europastadt-Bewerbung, ihr Slogan: „Out oft the Void – Raus aus der
       Leere“. Jetzt muss Trümper nur noch die Kritiker im Stadtrat besänftigen.
       
       Das war im Januar, vor Corona. Der Stadtrat sprach sich mehrheitlich für
       den neuen Stadtteil aus. Der Slogan „Out oft he Void“ allerdings wurde
       ausgetauscht. „Force of Attraction – Anziehungskraft“ lautet der neue.
       Leere, so hatte die Kulturhauptstadt-Jury im Dezember bemängelt, lasse Raum
       für negative Assoziationen.
       
       ## Aufgelassene Industriebetriebe
       
       Industriebrachen suggerieren Stillstand, Magdeburg hat davon reichlich,
       etwa im Stadtteil Buckau. Pappeln, Birken, Gestrüpp, dazwischen Ruinen aus
       Ziegelstein, über allem Schäfchenwolken. Vor der Savanne steht ein
       bronzener Titan mit Pranken wie ein Schöpfergott, die Rechte zur Faust
       geballt. Kinder sollten in der DDR diesen Kraftmeier als „Teddy“ verehren.
       In Wahrheit war Ernst Thälmann gläubiger Stalinist, KPD-Parteivorsitzender
       und wurde, von Stalin fallen gelassen, 1944 von den Nazis im KZ Buchenwald
       ermordet – ein kommunistischer Märtyrer.
       
       Der Koloss stand vor dem Haupteingang eines der größten Industriebetriebe
       der DDR, dem Schwermaschinenbau-Kombinat „Ernst Thälmann“, kurz Sket, mit
       13.000 Werktätigen im Stammbetrieb Magdeburg. Die Brache im Hintergrund war
       einmal Sket und „Teddy“, 2011 abgestellt auf der Freifläche des
       Technikmuseums Magdeburg, sein Namenspatron.
       
       „Magdeburg war eine der reichsten Städte Deutschlands“, sagt Gerhard Unger
       im Technikmuseum. Ungers Unterarme sind fast so mächtig wie die von
       Thälmann, dabei ist der Mann achtzig. Es ist, als hätte Unger sein Leben in
       einer Muckibude verbracht, in Wirklichkeit war er Ingenieur im Magdeburger
       Armaturenwerk MAW, einer ehemalige Industrie-Ikone, Produktpalette
       Drosselklappen, Hähne, Ventile, alles nicht fürs Bad, sondern für
       Talsperren und Kraftwerke. Hier, wo Unger über seine frühere Arbeit redet,
       riecht es auch nach dreißig Jahren noch immer nach Öl und harter Arbeit.
       
       Die ehemalige Stahlbauhalle ist für Magdeburg nicht weniger bedeutsam als
       der Domberg. Sie ist die Keimzelle des Maschinenbaus. Der Magdeburger
       Hermann Gruson, Nachfahre hugenottischer Einwanderer, erfand hier den
       Hartguss, wichtig für Eisenbahn, Maschinenbau und vor allem fürs Militär.
       Drehbare Kuppeln, denen die schwersten Geschütze nichts anhaben konnten,
       wurden zum Verkaufsschlager. Preußen rüstete seine Festungen, Magdeburg war
       eine der größten, damit aus. Gruson brachte sein Unternehmen an die Börse.
       1893 übernahm es Friedrich Krupp. Gruson hingegen widmete sich fortan
       seiner zweiten Leidenschaft, der Botanik, insbesondere der Zucht von
       Kakteen. Nach dessen Tod 1895 schenkte die Familie die botanische Sammlung
       der Stadt, die in schönster Lage einen Gewächshauskomplex errichten ließ.
       
       Derzeit sind die Gruson-Gewächshäuser geschlossen, der Botanische Garten
       wird komplett saniert. Sollte Magdeburg 2025 Kulturhauptstadt werden, die
       tropische Flora wäre bereit. Von dieser Planungssicherheit ist das
       Technikmuseum noch entfernt. In hoffnungsvollen Händen ist es trotzdem.
       Denn wenn Magdeburg seine Reichtümer präsentieren will, soll es nicht bei
       Kaiser Otto verharren.
       
       ## Ein Konzept für Industriekultur
       
       „Wenn Sie mit Kulturleuten sprechen, dann denken die immer an Hochkultur“,
       sagt Gerhard Unger. An Industriekultur denke kaum jemand. Immerhin, lobt
       Unger, es gibt einen Vermerk im Koalitionsvertrag der Landesregierung zu
       einem Konzept Industriekultur in Sachsen-Anhalt. Es hat auch etwas mit
       Identität zu tun.
       
       Und so soll das Industriemuseum umgebaut werden zum Zentrum der
       Industriekultur in Sachsen-Anhalt. Unger dürfte ein Stein vom Herzen
       fallen. Von 2006 an hatte er mit Gleichgesinnten das Museum ehrenamtlich
       weiterbetrieben. Das „Schaudepot für Technikgeschichte“ stand vor dem Aus,
       die Stadt konnte es nicht mehr finanzieren. Seit einem Jahr ist das Museum
       erneut im Stadtbesitz und hat einen noch jungen, aber sehr erfahrenen
       Leiter.
       
       Es geht nicht nur um Großbetriebe wie Sket, „eine Fabrik, die Fabriken
       gebaut hat“, ganze Walzwerke, Seilereien, Zuckerfabriken, Ölmühlen.
       Fabriken, von denen einige irgendwo in den Weiten Russlands immer noch
       produzieren. Schon das zu präsentieren wäre spannend.
       
       Es geht um Sozialgeschichte, um Städtebau. Derzeit aber ist die Sanierung
       des Sägezahndachs schon eine Mammutaufgabe. Die erste Sonderausstellung
       soll es 2025 geben. 2030 könnte das neue Zentrum Industriekultur fertig
       sein. Es geht auch um Kooperation mit wissenschaftlichen Einrichtungen, mit
       Schulen, Vereinen und anderen Museen im Land. Dass Schulkinder sägen,
       feilen, bohren lernen, überhaupt ein Gefühl für Werkstoffe entwickeln, ist
       ein Herzensanliegen Ungers.
       
       Trotzdem war in Magdeburg nie alles nur Gruson oder Sket. Davon erzählen
       die außergewöhnlichsten Exponate. Da ist der Nachbau des ersten deutschen
       Motorflugzeugs, mit dem sich Hans Grade 1908 in Magdeburg acht Meter in die
       Luft erhob. Deutlich höher sollte die privat finanzierte „Magdeburger
       Piloten-Rakete“ fliegen, die 1933 den ersten Menschen in den Himmel
       schießen wollte. Eine fantastische Idee von Raumflugbegeisterten,
       unterstützt vom damaligen Magdeburger Stadtoberhaupt Ernst Reuter, der 1948
       Oberbürgermeister von Westberlin wurde.
       
       ## Ottos Lieblingspfalz
       
       Vermutlich hat es ein Menschenleben vor dem Tod bewahrt, dass der bemannte
       Start nie erfolgte. Ein unbemannter Flug endete schon nach dreißig
       Höhenmetern. Doch in dieser sechseinhalb Meter hohen Rakete arbeitete
       erstmals ein Rückstoßtriebwerk. Nach diesem Prinzip heben auch heute noch
       Raketen ab. Ein Nachbau steht in der Halle, jeder Besucher kann
       hineinsteigen und sich, ein technischer Gag, per Knopfdruck in die Lüfte
       erheben.
       
       Nach so viel Enthusiasmus tut etwas Stille gut. Im Hohen Chor des
       Magdeburger Doms steht ein schlichter Marmorsarkophag. Otto liegt hier
       begraben, der in Aachen den deutschen Königthron bestieg und in Rom 962 vom
       Papst zum ersten römisch-deutschen Kaiser gekrönt wurde; Otto der Große,
       der die Fundamente für das Gebilde schuf, das heute Deutschland heißt. Otto
       hat Magdeburg, seine Lieblingspfalz, reich beschenkt. So ließ er vier
       antike Säulen über die Alpen hierherbringen. Heute stützen sie die Grablege
       des Kaisers, der viele Jahre nahezu unbemerkt in der
       Schwermaschinenbaustadt geschlafen hat.
       
       Es gab viele Magdeburger, die zu DDR-Zeiten mit dem Dom gefremdelt haben.
       Obwohl in Staatsbesitz, war er vor allem eine kirchliche Insel in einer
       weitgehend sozialistischen Stadt. Nur von außen kannten ihn wirklich alle
       Magdeburger, Otto hingegen war ein feudaler Eroberer mit Drang nach Osten
       und Religion Opium des Volkes. Eine sozialistische Stadt brauchte andere
       Heroen, Thälmann etwa. Heute ist Magdeburg offiziell Otto-Stadt.
       
       Hinter dem Dom, zwischen Mittelaltertor, Barockfassaden und romanischem
       Kloster, lässt es sich so schön spazieren, als wäre die Stadt tatsächlich
       nie zerstört worden. Und wenn der Blick über die Elbe wandert, hinüber zum
       Rotehornpark, könnte man ins Träumen kommen. Von der Wassernixe Elwine
       etwa, der Beherrscherin der Elbe, die dort mit einem Stoß in ein rotes
       Muschelhorn Tag für Tag ihren sterblichen Gemahl verabschiedet hat. Oder
       dass der 1. FC Magdeburg den Aufstieg in die Zweite Bundesliga wieder
       schafft. Oder dass Magdeburg 2025 tatsächlich europäische Kulturhauptstadt
       wird.
       
       26 Jul 2020
       
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 (DIR) Thomas Gerlach
       
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