# taz.de -- Berliner Stimmen aus der Quarantäne (8): Bäume umarmen
       
       > Der Musiker und Wanderprediger Pastor Leumund hat sich in den Wald
       > zurückgezogen, weil ihn die realdadaistischen Zustände sprachlos machen.
       
 (IMG) Bild: Träumt von Entschleunigung, doch die Hölle wird immer heißer: Pastor Leumund
       
       taz: Was würden Sie in einer Welt ohne Covid 19 gerade machen? 
       
       Pastor Leumund: Ich wäre als Diskursdisko-Prediger mit Mittekill und Dr.
       Telefonmann auf Tournee und würde Festivals und andere Versammlungen
       beschallen. Dazwischen würde ich performative Workshops für Kinder,
       Jugendliche oder Festivalbesucher anbieten.
       
       Was haben Sie zuletzt gestreamt, das Sie besonders gut oder schlecht
       fanden? Und warum? 
       
       Beim Streaming fehlt alles, was für mich einen Event lebendig macht:
       Austausch, Zufall, Interaktion, die Wahl der Perspektive. Selbst der Stream
       zu „My Gruni“, dem Autokorso des Quartiersmanagements Grunewald am 1. Mai,
       der mit Liveschaltungen zu verschiedenen Orten dieses besonderen
       Feiertages, sowie eingestreuten vorproduzierten Beiträgen der beteiligten
       Initiativen Maßstäbe setzte, konnte mich nicht wirklich begeistern.
       
       Was halten Sie vom (oft kostenlosen) Streaming von Theateraufführungen,
       Konzerten, DJ-Sets oder Lesungen? 
       
       Ich verstehe den Impuls, wenigstens mit Notlösungen weiterzumachen. Und
       vielleicht wird ja auf diese Weise tatsächlich irgendein Club oder eine
       Institution vorm Dichtmachen bewahrt. Ich fände es allerdings schlimm, wenn
       sich durch das Gestreame alle daran gewöhnen, dass Kulturschaffende als
       free download konsumierbar bleiben, obwohl sie eigentlich gar nicht mehr in
       der Lage sind zu existieren.
       
       Anstatt die Mietzahlungspflicht in einer Krise wie dieser anzupassen,
       werden lieber alle Selbstständigen in die Jobcenter geschickt, während
       Kulturstiftungen nun die Kultur mit gefördertem Streaming am Leben halten
       müssen. Für mich ist es trostlos, isoliert Geisterveranstaltungen am
       Endgerät zu verfolgen. Sowieso kotzt es mich übelst an, dass es nun ohne
       Internet quasi gar mehr möglich ist, am gesellschaftlichen Leben
       teilzunehmen. Ich befürchte, dass das auch so bleibt, wenn die Pandemie
       vorbei sein sollte. Ihr trefft mich in der postdigitalen Zone.
       
       Welchen Ort in Berlin vermissen Sie gerade am meisten? 
       
       Das polizeifreie Viertel. Mit professionellem Awareness-Team natürlich.
       
       Womit vertreiben Sie sich aktuell am liebsten die Zeit? Welche Routinen
       haben Sie seit dem Lockdown entwickelt? 
       
       Mir sind sämtliche Routinen endgültig abhanden gekommen. Meine Phantasie
       wird von der Wirklichkeit endgültig überholt. Die zunehmend
       realdadaistischen Zustände auf unserem Planeten machen mich sprachlos. Das
       ist für einen Wanderprediger ungünstig, weswegen ich mich momentan tief im
       Wald verstecke und Bäume umarme. Mit Pflanzen kann man zum Glück stumm
       kommunizieren und Abstand muss man auch nicht zu ihnen halten.
       
       Ist die Pandemie nur Krise oder auch Chance? 
       
       Die verbindende Wirkung von Entschleunigung, Verzicht, nachbarschaftlicher
       Initiative und gegenseitiger Verantwortung, welche uns der Ausnahmezustand
       plötzlich aufgezwungen hat, gerät mit der Rückkehr zur Normalität und den
       üblichen Sackgassenhauern hoffentlich nicht so schnell wieder in
       Vergessenheit. Dank Corona hab ich mir zwei Monate Zeit genommen, die
       letzte Lebensphase meiner Mutter bis zu ihrem Tod – der nichts mit Covid 19
       zu tun hatte – zu begleiten, worüber ich sehr dankbar bin.
       
       Ein von Autos und Touristen befreites Berlin mit Pop-Up-Fahrradwegen, wie
       wir es zum Anfang des Lockdowns erleben durften, ist genau wie ein Himmel
       ohne Flugzeuge oder Delphine in Venedig für Menschen in Machtpositionen
       immer noch keine zukunftsweisende Vision. Im Schatten der Pandemie stehen
       die Chanchen offensichtlich besser dafür, noch skrupelloser Geschäfte zu
       machen als eine enkeltaugliche, gemeinwohlorientierte Ökonomie einzuführen.
       Wir träumen von einem Bewusstseinswandel, während außerhalb unserer Blase
       die Hölle immer rasanter heißer wird.
       
       3 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ole Schulz
       
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