# taz.de -- Auf dem Elbe-Radweg von Prag bis Dresden: Eintauchen in die böhmische Kultur
       
       > Erst nach der Wende wurde der touristische Wert der Böhmischen Schweiz
       > und des Elbtals entdeckt. Sechs Tage dauert üblicherweise die Radtour.
       
 (IMG) Bild: Ein Ort der Widersprüche: Hoch über der Elbe das Schloss von Děčín
       
       Es ist eine immer wieder überraschende Frage, in welches Meer die Moldau
       mündet. Vor allem von Westdeutschen gibt es da oft verwegene Antworten,
       vielleicht ein Zeichen dafür, wie unbekannt vielen unser Nachbarland
       Tschechien doch immer noch ist – abgesehen von dem Dauerfaszinosum Prag.
       Auch dreißig Jahre nach der „samtenen Revolution“ sind uns [1][Böhmen und
       Mähren] weiterhin böhmische Dörfer.
       
       Zumindest sprachlich hat das seine Gründe. Schon deutsche Namen wie
       Tetschen, Herrnskretschen, oder Leitmeritz sind für den
       Durchschnittsdeutschen etwas sperrig. Dass germanische Zungen mit deren
       tschechischen Namen Děčín, Hřensko, Litoměřice Schwierigkeiten haben, hat
       schon den Habsburgern diese Orte nicht eben vertrauter gemacht: böhmische
       Dörfer eben. Wohl deshalb behielt [2][die Elbe,] obwohl sie eigentlich der
       kürzere und kleinere Zufluss der Moldau ist, ab dem Zusammenfluss nördlich
       von Prag ihren Namen. Die Moldau mündet also hinter Hamburg in die Nordsee.
       
       Will man böhmische Dörfer und Städtchen kennenlernen, ist man bei Vitek
       Procházka in den besten Händen. Der fröhliche Prager mit dem dunklen
       Vollbart und dem breiten Lachen ist so etwas wie die samtene Elb-Revolution
       auf Rädern. Mit seinen „Europe Bike Tours“ bietet Vitek seit sieben Jahren
       Radtouren durch die gesamte Tschechische Republik an. Eine der spannendsten
       Touren ist dabei sicher der Elbe-Radweg von Prag bis Dresden.
       
       Die Strecke ist in den vergangen Jahren ausgebaut worden. Überall gibt es
       angenehme Hotels, und die Restaurant- und Kneipenszene auf dem Weg ist
       verführerisch. Üblicherweise dauert die Tour sechs Tage. Man kann sie
       natürlich auch in Abschnitten und auf eigene Faust machen. Allerdings
       empfiehlt es sich sehr, gelegentlich lokale FührerInnen zu nehmen. Mit den
       Einheimischen zusammen bekommt man nämlich das erhebende Gefühl, eine
       historische Region zu besuchen, die sich selbst gerade erst wiederentdeckt.
       Dass der (Rad-)Tourismus in Nordböhmen bei dieser Wiederentdeckung helfen
       kann, macht ihn besonders wertvoll: Ökologisches Reisen als Beitrag zu
       regionaler Entwicklung samt aktiver Völkerverständigung und praktizierter
       Erinnerungskultur: das klingt wie ein ausgeklügeltes EU-Projekt (was es zu
       Teilen auch ist).
       
       Sven Czastka, auch er mit Vollbart, dazu noch langen blonden Haaren, und
       sein Děčín zum Beispiel: eine hübsche kleine Stadt, das „Tor zum
       Elbsandsteingebirge“, das wir am Nachmittag mit Vitek durchfahren haben.
       Canyonartige graue Felswände, grüne Hügel, kleine Dampfer, die dem
       schlängelnden Fluss folgen. Eine Loreley-Gegend auf böhmisch. In Děčín dann
       ein beeindruckendes altes Schloss hoch über der Elbe mit einem barocken
       Pferdestall – alles aufwendig renoviert. Geschichte, wohin man blickt. Hier
       ist Sven vor 40 Jahren geboren, hier ist er aufgewachsen.
       
       ## Bevölkerung umgesiedelt
       
       Den Vornamen hat er von seinem deutschstämmigen Vater. Zu Hause aber war
       Deutsch verpönt – obwohl der Vater als Dolmetscher arbeitete. Die Mutter
       war nach dem Krieg aus Mähren nach Děčín gekommen, umgesiedelt wie so viele
       aus der damaligen Tschechoslowakei. 90 Prozent der Bevölkerung sind in den
       sogenannten Sudeten ausgetauscht worden. Etwa 3,6 Millionen Deutsche wurden
       vertrieben.
       
       600 Jahre lang waren sie – vor allem in die gebirgigen Gegenden rund um das
       flache Zentralböhmen – eingewandert, oft gerufen von den böhmischen
       Königen. Die Verbrechen in der Nazizeit nach dem Anschluss des
       Sudetenlandes und des Protektorats Böhmen und Mähren führten dann nach dem
       Krieg zur Vertreibung: sieben Jahre, die eine Tradition von Jahrhunderten
       zerstörten. Der tschechische Sozialismus hatte kein Interesse, an diese
       Tradition anzuknüpfen.
       
       Sven spricht offen über das schwierige Verhältnis der jetzigen Bewohner zu
       ihrer Region. „In meiner Kindheit kannten wir die Umgebung hier gar nicht,
       wir sind nicht rausgefahren, wir haben im Garten Tomaten gepflanzt.“ Erst
       nach der Wende habe man langsam den touristischen Wert der Böhmischen
       Schweiz und des Elbtals entdeckt. Es dauerte zwei Generationen, bis aus den
       Zugewanderten so etwas wie „Indigene“ wurden. Die ehemaligen waren ja weg.
       
       Vor ein paar Jahren gründete Sven die Firma Active Point Děčín. Die
       verleiht nicht nur Räder, sondern auch „Downhill Klickscooter“ und sie
       bietet geführte Kletter-, Kanu- und Raftingtouren an. Erst jetzt sei er in
       seiner Region wirklich angekommen. Und erst vor Kurzem habe ein
       progressiver Bürgermeister entdeckt, wie gut dieses Gebiet – in alten
       Zeiten mal ein Luftkurort – touristisch zu nutzen ist.
       
       In Leitmeritz, viele malerische Elbwindungen stromaufwärts, ist die
       Geschichte noch weitaus präsenter. Auch hier, jenseits der Porta Bohemica,
       die das Sandsteingebirge von dem vulkanischen böhmischen
       Basaltmittelgebirge trennt, steht eine perfekt renovierte Burg, deren
       Ursprünge auf das 13. Jahrhundert zurückgehen und die heute auch als
       Kongresszentrum dient.
       
       ## „Bilderbuch der Baustile“
       
       Die Stadt verfügt – neben einigen sehenswerten Kirchen – über einen
       riesigen Marktplatz, der als „Bilderbuch der Baustile“ bezeichnet wird:
       Darunter ein gotisches (altes) Rathaus und das heutige Grandhotel „Salva“,
       in dem 1566 schon ein Ferdinand III. residierte, weshalb es sich als eines
       der „ersten mitteleuropäischen“ Hotels preist.
       
       Mit den architektonischen Leckerbissen ist das Eintauchen in die böhmische
       Kultur aber noch nicht zu Ende. Am Abend führt uns Vitek zu einer
       Bierverkostung in die kleine Brauerei St. Stephanus. Neben den diversen
       Biergeschmäckern schmeichelt dabei auch das Essen dem Gaumen.
       
       Es sind nur ein paar Minuten auf dem Fahrrad von Leitmeritz nach Terezín.
       Der deutsche Name, Theresienstadt, gehört immer noch zu jenen Worten, die
       für Terror und Grauen stehen. Dass Theresienstadt der Ort des Ghettos und
       des KZs ist, will die Stadt auch gar nicht vertuschen. 1991 wurde ein
       Ghettomuseum in der ehemaligen Schule eröffnet.
       
       Seit 2001 dokumentiert dort eine gut gemachte Ausstellung die Rolle, die
       Theresienstadt bei der „Endlösung der Judenfrage“ spielte, seit Ende 1941
       hier das Ghetto eingerichtet wurde. 35.000 Menschen kamen in Theresienstadt
       um, 83.000 wurden von hier in die Vernichtungslager deportiert. Weniger als
       4.000 haben die Befreiung erlebt.
       
       ## Die Wende brachte die Abwanderung
       
       Betritt man den großen Hauptplatz der ehemaligen Festungsstadt, beschleicht
       einen ein merkwürdiges Gefühl der Verlassenheit. Die Stadt steht leer. Nur
       knapp 2.000 Einwohner leben heute in der alten Garnisonsstadt, in der sich
       zur schlimmsten Zeit des Ghettos bis zu 58.500 Menschen drängten. Auch nach
       dem Krieg, als Terezín wieder vor allem Militär beherbergte, hatte die
       Stadt bis zu 9.000 Einwohner. Nicht das traurige Erbe der Ghettozeit hat
       Terezín entvölkert, sondern die Wende – der Abzug der Russen und des
       Militärs. Es gab einfach keine Jobs mehr.
       
       Seitdem bemüht sich die Stadt um eine zivile Perspektive. Der Tourismus
       soll dabei eine wichtige Rolle spielen. Dabei geht es natürlich auch um den
       „dark tourism“ der Ghetto-Geschichte – aber eben nicht nur. Darüber, wohin
       es mit Terezín gehen soll, kann am besten der junge Historiker Jiří
       Hoffmann Auskunft geben, der auch Chef des Tourismusbüros ist. Jiřís
       Studienobjekt ist die riesige Festung, die Joseph II. zwischen 1780 und
       1790 errichtete. Sie sollte Prag gegen die Preußen Friedrichs II. sichern.
       Zu Ehren seiner Mama Maria Theresia nannte Joseph die Festungsanlage
       „Theresienstadt“.
       
       Nicht ohne Stolz führt uns Jiří durch die endlosen unterirdischen Gänge und
       Kasematten, die in den letzten Jahren restauriert wurden. „Insgesamt 34
       Kilometer“, raunt er uns zu. Oben, auf einem der Wälle, schauen wir auf die
       tiefen Gräben, die rund um die Festung ausgehoben wurden, um sie im Notfall
       mit Wasser aus der Eger zu fluten. Über Wiesen und Felder blicken wir bis
       Leitmeritz und zur Elbe. Militärisch wurde Theresienstadt übrigens nie
       angegriffen. Gegen die Nazis half die riesige Festung nicht – im Gegenteil:
       Sie diente ihnen als KZ.
       
       ## Widersprüchliches Erbe
       
       Was die Nazis aus der Anlage gemacht haben, ist in der „Kleinen Festung“ zu
       besichtigen. Ursprünglich als Wachtposten gedacht, wurde dieses äußere
       Bollwerk schon bald zu einem Militärzuchthaus. Seit Mitte des 19.
       Jahrhunderts saßen hier auch politische Gefangene aus dem ganzen
       Habsburgerreich – so etwa auch Gavrilo Princip, der Attentäter von
       Sarajevo. Wer heute die Kleine Festung besucht, bekommt die schwer
       erträgliche Innenansicht eines Gestapo-Gefängnisses. 27.000 Männer und
       5.000 Frauen saßen hier unter katastrophalen Bedingungen. 2.500 fielen den
       Krankheiten, der Sklavenarbeit in den Stollen von Leitmeritz, den
       Folterungen und Hinrichtungen zum Opfer.
       
       Jiří weiß auch um diese Geschichte. Er träumt davon, dass das
       widersprüchliche Erbe der Stadt sie zu einem Zentrum eines historisch
       bewussten Tourismus machten könnte – nun, da die Militärs, die Henker und
       die Unterdrücker endlich weg sind. Vielleicht könnte aus der Festung
       Theresienstadt ja ein Bollwerk gegen jede Art von Geschichtsvergessenheit
       werden.
       
       Die Europäische Union jedenfalls will dabei helfen. Allerdings sollen die
       Tschechen ein Viertel der veranschlagten 260 Millionen Euro selbst
       aufbringen. Jiří ist optimistisch: 260.000 Besucher kamen letztes Jahr.
       Tendenz steigend! Und schließlich gibt es ja auch noch die Radfahrer vom
       Elbe-Radweg.
       
       Die Reise wurde von der tschechischen Zentrale für Tourismus unterstützt.
       
       12 Jul 2020
       
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