# taz.de -- Klangkunst-Festival in Appenzell: High Noon in den Voralpen
       
       > Waghalsige Improvisationen: Das Festival Low Noon im Schweizer Appenzell
       > macht an ungewöhnlichen Orten experimentelle Musik äußerst nahbar.
       
 (IMG) Bild: Showdown am Bahnhof Rietli im Schweizrischen Außerrhoden
       
       Am Bahnhof Rietli – eine solide Holzhütte als Warteraum und Unterstand, ein
       kleiner Kiesplatz, ein Abstellgleis – hält der Schmalspurzug der
       Appenzeller Bahnen nur dann, wenn ein Fahrgast das vorher per Knopfdruck im
       Waggon oder auf dem Bahnsteig verlangt.
       
       Zwölf Mal über den ganzen Monat Juni verteilt steigt hier eine oder einer
       von zwölf experimentellen Musikerinnen und Musikern jeweils um 12.12 Uhr
       mit Instrument oder sonstigem Klanggerät aus, um sich an diesem entlegenen
       Ort in den Voralpen ein zwölfminütiges Duell mit dem Kontrabassisten
       Patrick Kessler zu liefern. Der wohnt gleich um die Ecke und hat hier oben
       schon vergangenes Jahr das Soundinstallationsfestival „Klang Moor Schopfe“
       veranstaltet (siehe taz vom 19.9.2019).
       
       Je kleiner die kulturelle Nische, desto größer das Handicap, öffentlich
       wahrgenommen zu werden – sollte man meinen. Doch Kessler dreht diesen Spieß
       sowieso gerne um: Als Leiter des äußerst freigeistigen St. Galler
       „Chuchchepati Orchestra“ ist er erfinderisch und unerschrocken genug, um
       auch waghalsigste musikalische Praktiken nahbar zu machen und sie an den
       ungewöhnlichsten Orten unter die Leute zu bringen. Zum „Low Noon“-Auftakt
       am kleinen Provinzbahnhof empfing Kessler Saadet Türköz aus Zürich, eine
       Sängerin mit türkisch-uigurischen Wurzeln, die den Streich- und
       Kratz-Kaskaden vom Kontrabass ihre expressive Stimme entgegensetzte. Frisch
       von der Leber weg wurde improvisiert, laut und leise, mit Frage und
       Antwort, von vorsichtig tastend bis hemmungslos ausgelassen.
       
       ## Maschinenpark auf Kiesplatz
       
       Nach zwölf Minuten pfiff der aus der Gegenrichtung eintreffende Zug die
       Duellanten [1][zur Ordnung], Türköz stieg wieder ein und entschwand. Tags
       darauf gastierte der Schweizer Soundmixer Simon Grab, der seinen kleinen
       Maschinenpark auf einem Kiesplatz installierte und nach dem gleichen Muster
       wie Türköz in einen offenen Dialog mit Kesslers Bass trat. Organisch
       pulsierende Elektrosounds, flüchtig hingetupfte Melodiemotive und fragile
       Feedbacks ergaben eine inspirierende tachistische Klangmalerei, die durch
       nepalesische Billiglautsprecher in die Umgebung gepustet wurde.
       
       Vor einer Woche trat dann Barry Guy zum Duell an, ein Veteran der
       Erforschung freier Formen zwischen [2][Jazz] und klassischer Musik. Weil
       der 73-jährige Brite außerdem ein großer Kommunikator ist und eine
       Kontrabass-Autorität dazu, wurde das Duett mit seinem Gastgeber eine offene
       Begegnung auf Augenhöhe.
       
       Erkenntnis am Rande: Zwölf Minuten pro Darbietung sind für solch
       experimentelle Kurztrips ums Gehirn herum genau die richtige Dauer – die
       volle Dosis inklusive analoger Mittelformat-Fotos soll dann zum Jahresende
       als Triple-Vinyl-Edition vorliegen. In den bereits hochgeladenen
       Zeitraffer-Videos und in Beiträgen lokaler Medien sieht man, dass den
       Duellen bisher eher spärliches Publikum beschieden war. Dem Augenschein
       zufolge eine Mischung aus Noise-Nerds und neugierigen Zaungästen, die sich
       ganz gern mal auf unübliche Klänge einließen, durchaus empfänglich auch für
       das Geräusch als solches – und für seine Inszenierung.
       
       ## Spannungsgeladenes Warten
       
       „Zwölf Uhr mittags“, der Schwarz-Weiß-Western von Regisseur Fred Zinnemann
       war für Patrick Kesslers Projekt („Low Noon“ heißt es wegen seines
       Tiefton-Instruments) zwar Inspiration, aber mehr Parallelen als den
       Schauplatz eines abgelegenen Bahnhofs und vielleicht noch das
       spannungsgeladene Warten auf ein Ereignis will der Initiator gar nicht
       bemühen. In der Wahl der Waffen für seine Duelle ist Kessler allemal
       flexibler als Marshal Will Kane bzw. Gary Cooper. Neben Barry Guy stehen
       mit dem Holzbläser Hans Koch (ex-Koch/Schütz/Studer), dem Elektroschrotter
       Norbert Möslang (ex-Möslang/Guhl, Wendy Gondeln) und dem schwedischen
       Saxofon-Berserker Mats Gustaffson noch drei weitere Koryphäen der
       Krachfraktion im Programm.
       
       Das Line-up vervollständigen mit Mario Hänni, Camille Emaille und Julian
       Sartorius drei sehr interessante Drummer, außerdem die E-Bassistin Martina
       Berther (aus Sophie Hungers Band), der in jeder Hinsicht aus dem Rahmen
       fallende Avantgarde-DJ Dieb 13 aus Wien und schließlich der Jazztrompeter
       Jaronas Höhener, der mit dem Ort der Handlung in besonderer Weise verbunden
       ist: Vom Bahnhof Rietli aus fuhr er zwölf Jahre lang zur Schule und in den
       Musikunterricht.
       
       In den verfügbaren Audio-Ausschnitten fehlt bisher übrigens jede Spur von
       „Do Not Forsake Me, Oh My Darling“, dem immerhin Oscar-gekrönten Titelsong
       von „High Noon“, aber das kann ja noch werden. Weil Duelle gemeinhin unter
       freiem Himmel stattfinden, ist die termingerechte Fortsetzung der „Low
       Noon“-Konzertreihe witterungsabhängig. Das Programm wird auf der Website
       [3][https://www.chuchchepati.ch/low-noon/duelle.html] laufend aktualisiert,
       Corona-Beschränkungen sind an der frischen Luft nicht zu befürchten.
       
       23 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Nancarrow-Pionier-der-Maschinenmusik/!5080833/
 (DIR) [2] /Blaxploitation-Scifi-Musikfilm-mit-Sun-Ra/!5613979/
 (DIR) [3] https://www.chuchchepati.ch/low-noon/duelle.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Schäfler
       
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