# taz.de -- Die Wahrheit: Die Maus zum Jagen tragen
       
       > Die Kolumne mit der Maus (2): Nachts, wenn alles schläft, ist meistens
       > keiner wach. Und Luise ist längst freigesetzt, in der Wildnis der Stadt.
       
       Eines Nachts rappelte es im Karton. Dummerweise war ich schon im
       Halbschlaf. Da ich wusste, dass das Gerappel noch einige Stunden lang
       dauern würde, wenn ich nichts unternähme, stand ich auf, zog ein
       Ganzkörperkondom über – na ja: Einmalhandschuhe und Kleidung – und schritt
       mit der Lebendfalle raus in die Nacht.
       
       Luise war wieder da. Oder eine Verwandte. Es gab bekanntlich Mäuse in
       meiner Wohnung. Sogar Kammerjäger aka Mäusepolizei wurde gerufen, es half
       alles nichts. Doch jetzt war mir Luise, wie ich sie getauft hatte, in die
       Lebendfalle gegangen.
       
       Draußen herrschte Ausgangsbeschränkung, umso komischer muss ich ausgesehen
       haben: Ein notdürftig Bekleideter, der mit einem Plastikkasten um die
       Häuser zog. Die Spätibetreiber standen noch palavernd vor ihrem
       systemrelevanten Laden, ein Expat-Paar kam mir sonst woher entgegen und
       musterte mich fragend. Ich zuckte mit den Achseln. Was soll man machen?! Es
       ist spät, aber Maus muss raus! Zwei Straßenecken weiter entließ ich Luise
       in die Freiheit. Sie stutzte kurz und verschwand im nächsten Haus, das in
       der Fassade ein kaum auszumachendes Loch aufwies.
       
       Das war die vierte Maus, eine fünfte und eine sechste sollten noch kommen.
       Der Nachbar unter mir hatte weniger Glück; aus seiner Wohnung wurden
       regelmäßig verdächtig aussehende schwarze Plastiksäcke abtransportiert.
       Irgendwann gab es einen Aushang: „Eine starke Mäuseplage hat unsere Gebäude
       getroffen … Mäuse vermehren sich sehr schnell! Und in großer Zahl!“
       
       ## Eine neue Luise
       
       Die nächsten Nächte waren anstrengend. Natürlich war nichts mehr zu hören,
       umso sperrangelweit offener waren meine Ohren. Atmete da was, oder atmete
       die Heizung? Hatte die fesche Nachbarin unbedeutenden Sex, oder quietschte
       irgendwo eine neue Luise? Im Wesentlichen aber herrschte Weihnachtsstille
       in der Hauptstadt. Im Frühling.
       
       Ich überlegte, die Adventsbeleuchtung wieder herauszuholen. Aber ich hatte
       gar keine. Dann war mir, als ob meine Nachbarin, die tagsüber in einem
       Blutspendebus als medizinische Assistentin arbeitete, mir beim Schlafen
       zusah. Sie spähte vampirhaft durch das Loch in der Zimmerdecke und sah mir
       beim bangen Atmen zu. Ja, manchmal erkannte ich dort ein Auge, wo später,
       nach Beschluss der Hausverwaltung, ein Rauchmelder hinkommen sollte. Mäuse
       und Vampire, Corona und Verwaltung.
       
       Ich lenkte mich mit Erinnerungen ab. Mir fiel ein, dass die ersten Konzerte
       meines Lebens nichts Cooles hatten: Udo Jürgens. Grugahalle, Essen. Mein
       alles andere als schlagerhaushaltsfremder Onkel schleppte mich mit; beim
       ersten Mal durfte ich Udo sogar irgendetwas überreichen, vermutlich Blumen,
       ich war sechs oder sieben. Bestes Stück: „[1][Dieses ehrenwerte Haus]“!
       
       Beim zweiten Mal, es waren bereits die achtziger Jahre, spielte Udo Jürgens
       endlich als Zugabe unser Lied: „Vielen Dank für die Blumen.“ Die
       „Tom-und-Jerry“-[2][Titelmelodie].
       
       16 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=PXLiQdFClR4
 (DIR) [2] https://www.youtube.com/watch?v=AtX2OVhdmQ8
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) René Hamann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Mäuse
 (DIR) Kolumne Die Wahrheit
 (DIR) Maus
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Haus und Hof
 (DIR) Kolumbus
 (DIR) Maus
 (DIR) Café
 (DIR) Berliner Szenen
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Sterbliche Überreste auf Tour
       
       Urlaub scheint derzeit unmöglich. Aber wie war eigentlich der letzte?
       Schön, angenehm und zwiespältig wie ganz Polen.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Es ist Zeit für ein Haus
       
       Seit Jahren ist die Instandsetzung im Gange und nicht der Rede wert. Das
       Haus steht da wie ein verwundeter offener Körper.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Schiffe versenken für Ideologen
       
       Kolumbus’ Santa Maria wurde von Roland Kaiser besungen. Wahrscheinlich
       liegt sie deshalb schon lange nicht mehr im Hafen von Barcelona.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Mäusejagd im Moloch
       
       Die Kolumne mit der Maus: Deutet sich hier ein Fortsetzungsroman an? Oder
       nur der ganz normale Wahnsinn in einem Berliner Altbau.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Das Loch im Geschehen
       
       Eine auf den ersten Blick unschuldige Szene in einem Café. Wie in einem
       Song. Es wird Kaffee getrunken, Kuchen bestellt. Aber wer ist die Täterin?
       
 (DIR) Berliner Szene: Die Szene mit der Maus
       
       Hausfreund und Schreck: Die Abenteuer der moribunden Maus Mortimer.