# taz.de -- Macht und Ohnmacht von Worten: Über die Angst, gehört zu werden
       
       > Nicht alles muss gesagt werden. Welche guten und welche komplizierten
       > Gründe es gibt, zu schweigen.
       
 (IMG) Bild: Selbst wer das Recht hat, frei zu sprechen, kann nicht immer alles sagen
       
       Es gibt vieles, worüber wir nicht sprechen. Entgegen der hierzulande
       verbreiteten „Lass uns mal drüber reden“-Haltung finde ich: Oft ist das in
       Ordnung, nicht alles muss gesagt werden, manches ist sogar schöner, wenn es
       ungesagt bleibt.
       
       Manchmal schweige ich, weil mir die Worte fehlen. Ich habe entweder noch
       nicht die richtigen gefunden oder bin sicher, dass sie erschöpft, leer oder
       ohnehin nicht genug sind. Was sagt man 13 Wochen nach Hanau, was sagt man
       31 Jahre nach Tiananmen?
       
       Manchmal schweige ich, weil ich keine Ahnung habe. Klar, es gibt Momente,
       da stehst du – häufig mit ein paar Männern – irgendwo rum, und diese Regel
       gilt nicht, also sagst du was, aus Prinzip. Aber die Hoffnung bleibt ja,
       dass die Spielregeln sich ändern. Manchmal schweige ich, um jemanden zu
       beschützen. Wir sagen A’bu nicht, dass ihr Sohn sterbenskrank ist. Sie wird
       zerbrechen, wenn er geht. Warum sie schon vorher dem Schmerz aussetzen?
       
       Lieber gutes Essen als schlechte Nachrichten 
       
       Manchmal schweige ich, weil ich nicht die Richtige für die Worte bin. Wenn
       ich zwar etwas zu sagen habe, aber nicht die Erste sein muss, die spricht.
       Oder wenn ich weiß, dass meine Worte Schäden anrichten können. In Shanghai
       spreche ich fast nie über Politik, wir nehmen lieber gutes Essen in den
       Mund als schlechte Nachrichten. Aus Sorge, etwas kaputtzumachen. Etwas ist
       nicht nur der Haussegen, etwas sind Beziehungen und Lebensentwürfe. Etwas
       ist die zerbrechliche Gegenwart eines Mittelschichtlebens. Die Freiheit, in
       Wohlstand zu leben. Das Privileg, wegzusehen, oder die Bürde, alles aufs
       Spiel zu setzen, wenn man hinguckt? Etwas sind Mullbinden über Traumata.
       
       Es gibt gute Gründe zu schweigen und komplizierte. Aber manchmal schweige
       ich aus Angst, und das ist das größte Problem. Ich habe Angst, meine Worte
       könnten gehört werden. Dass sie eine willkürlich gezogene Linie
       überschreiten, von der kaum jemand weiß, wo sie verläuft. Herantasten, ein
       bisschen wie Minesweeper spielen, nur dass beim Fehltritt keine Pixel
       verpuffen, sondern mir jemand Zutritt zur Hälfte meines Lebens verwehren
       könnte. Vielleicht übertreibe ich. Vielleicht nicht.
       
       Ein Dissident in einem Barkeller in Taipeh sagt, er frage sich, ob der
       Preis für seine Worte zu hoch war. Ein Typ am Bahnsteig sagt, ich solle mit
       meinen Krankheiten zurück in mein Land gehen. China weist
       US-Journalist:innen aus. N. erzählt mir: „Ich hab da jetzt eh fast keine
       Verwandtschaft mehr, das macht es etwas leichter.“ Auf Twitter schreibt
       jemand: „Kommt da raus, besser jetzt als später.“ Nicht alle können gehen,
       nicht alle können aus der Ferne laut Verbrechen anklagen. Nicht, ohne mehr
       als ihren Job aufs Spiel zu setzen.
       
       Selbst wer das Recht hat, frei zu sprechen, kann nicht immer alles sagen.
       Manchmal schweige ich, weil mir der Einsatz zu hoch ist. Diese Einsicht
       kommt nicht ohne schlechtes Gewissen. Aber zum Glück auch mit der
       Erkenntnis, dass es in den meisten Kämpfen nicht nur Sprechrollen gibt.
       
       27 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Lin Hierse
       
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