# taz.de -- Kinder- und Jugendbuch im Frühjahr: Alles anders als gedacht
       
       > Turbulente Bildgeschichten über neue Freunde und Homeoffice sowie coole
       > Pflegeeltern im Roman „Home Girl“ – diese Kinderbücher erscheinen im
       > Frühjahr.
       
 (IMG) Bild: „Der Pinguin will immer nur fernsehen“: Ausschnitt aus „Seepferdchen sind ausverkauft“
       
       Nun, da viele Kinder statt in die Kita zu gehen, ihre Eltern bei der Arbeit
       zu Hause erleben, erscheint die erfrischend anarchistische
       Bilderbuchgeschichte „Seepferdchen sind ausverkauft“ von Katja Gehrmann und
       Constanze Spengler fast wie ein aktueller Kommentar zu Homeoffice & Co.
       
       Mika lebt in einer Wohnung mit seinem Vater, einem zerstreuten Tüftler mit
       wirrem Haar. Es ist Sommer, und der Junge hat den Schwimmring für den
       Ausflug an den Badesee schon aufgeblasen. Doch Papa will erst noch eine
       wichtige Sache am Computer beenden. Wie lange das dauert, kann er nicht
       sagen.
       
       Für diese von dem Autorinnenduo gemeinsam entwickelte Erzählung hat Katja
       Gehrmann ausdrucksstarke, unprätentiöse Bilder gefunden, die im
       Zusammenspiel mit der Textebene eine fesselnde Dynamik entwickeln.
       
       ## Rennmaus, Hund und Pinguin
       
       Um endlich in Ruhe arbeiten zu können, darf Mika schließlich allein in der
       Zoohandlung ein Haustier aussuchen, eine Rennmaus. Im Wohnzimmer baut er
       ihr sofort einen aufwendigen Parcour, doch am Ende des Nachmittags ist die
       Maus verschwunden. Kein Problem. Wieder geht Mika mit der roten Geldbörse
       des Vaters zum Tierhändler und kommt mit einem niedlichen Welpen zurück.
       Dank seiner ausgezeichneten Spürnase findet der Vierbeiner die Maus sofort.
       Doch der junge Hund pinkelt ins Badezimmer.
       
       Um das Kloproblem zu lösen, bringt Mika also einem Seehund nach Hause. Aber
       wer kann der wasserscheuen Maus beim Plantschen in der Badewanne
       Schwimmunterricht erteilen? Die Seepferdchen sind ausverkauft. Ein
       Brillenpinguin übernimmt die Aufgabe, obwohl der am liebsten vorm Fernseher
       sitzt und Tierfilme guckt. Langsam wird es eng auf dem Sofa.
       
       Viel passiert auf den mit Pinsel locker kolorierten und nachträglich mit
       kräftigem Strich konturierten Illustrationen. Während Mika für jedes
       Problem schnell ein weiteres Haustier findet, scheinen dem in der Arbeit
       versunkenen Vater die neuen Mitbewohner sowie ihre wilden Unternehmungen
       tagelang zu entgehen. Daraus ergeben sich in der fesselnden Erzählung viele
       komische Momente, die den besonderen Reiz des Bilderbuchs ausmachen.
       
       ## Graphic Novel über Oskar Rohr
       
       Während die Wiederöffnung der Schulen bereits langsam anläuft, ist eine
       Rückkehr zum wöchentlichem Fußballtraining und der Wiedereinstieg in die
       Bezirks-, Landes- oder Verbandsliga-Spiele längst nicht in Sicht. Für viele
       fußballbegeisterte Kinder und Jugendliche klingt das mehr als ungerecht,
       und der Totalausfall ist kaum auszuhalten. Für die anhaltende Zwangspause
       könnte die im Frühjahrsprogramm erschienene Graphic Novel „Ein Leben für
       den Fußball“ der passende Lesestoff und willkommene Ablenkung sein.
       
       In lebendigen Szenen erzählt Julian Voloj darin die Geschichte von Oskar
       Rohr, einem der ersten Profifußballer in Deutschland. Dessen internationale
       Karriere nahm nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und mit
       Beginn des Zweiten Weltkrieg ein jähes Ende.
       
       Marcin Podolec zeichnete für den Comic den Aufstieg des 1912 in Mannheim
       geborenen Fußballtalents in dynamischen Bildern. Überzeugend fängt der
       polnische Illustrator darin nicht nur die Begeisterung rund um den Ball
       ein, sondern skizziert mit erdigen Farbtönen den historischen Hintergrund
       der Biografie Rohrs.
       
       ## Dombi und Landauer
       
       Ab 1928 trainiert der junge Fußballer bei Richard Kohn alias Richard Dombi.
       Der erkennt sein Talent, und gemeinsam wechseln sie bald zum ehrgeizigen FC
       Bayern München. Dort treffen sie auf Kurt Landauer, Otto Beer und Walther
       Bensemann – frühe Protagonisten des Profifußballs in Deutschland. Die
       werden nach der Reichsprogromnacht 1938 als Juden verfolgt, verhaftet oder
       ermordet.
       
       Dombi wechselte bereits 1933 als Trainer zum Grasshopper Club Zürich in
       die Schweiz. Auch Bensemann, der Gründer der Zeitschrift Kicker musste
       Deutschland 1933 verlassen. [1][Vereinspräsident Landauer] gelang es, nach
       einmonatiger Haft im KZ Dachau 1939 in die Schweiz zu emigrieren. Otto
       Beer, Jugendtrainer vom FC Bayern, wurde 1941 von den Nazis nach Litauen
       deportiert und ermordet. Zusätzliche Hinweise im Anhang der Erzählung geben
       Informationen zu den Biografien.
       
       Autor Julian Voloj, der 2018 zusammen mit Thomas Campi die viel beachtete
       Graphic Novel über den vergessenen Superman-Erfinder Joe Shuster
       veröffentlichte, erinnert in „Ein Leben für den Fußball“ nicht nur an die
       frühen Jahre des Fußballs, sondern auch an jene nach 1945 fast vergessenen
       Persönlichkeiten die ihn in Deutschland maßgeblich prägten. So wird am
       Lebensweg des politisch uninteressierten Oskar Rohrs ebenfalls allzu
       deutlich, dass in Zeiten von Unrecht und Willkür auch der Fußball seine
       Unschuld verliert.
       
       ## Jugendroman aus London
       
       Naomi Brisset ist ein Fall für die Jugendfürsorge. Ihre Mutter hat
       Selbstmord begangen. Der Vater ist Alkoholiker. Betreut von ihrer
       Sozialarbeiterin Louise pendelt die Vierzehnjährige immer wieder zwischen
       Heimaufenthalten und Pflegefamilien. Nun soll das Mädchen übergangsweise
       bei den Goldings, einer schwarzen Familie untergebracht werden.
       
       In seinem gerade veröffentlichten Roman „Home Girl“, schildert der
       britische Schriftsteller Alex Wheatle, die emotionalen Achterbahnfahrten
       des elternlosen Teenagers und die Verwerfungen eines bürokratischen
       Sozialsystems. Ebenso wie ihre Freundinnen Kim und Nati aus dem Heim, ist
       Naomi niemals um einen Spruch verlegen.
       
       Großzügig teilen die drei aus, wenn es heißt ihren Platz zu behaupten und
       damit andere auf Abstand zu halten. Doch scheinen hinter Naomis vehementen
       Forderungen, den paranoiden Anschuldigungen und ihrer offensiven
       Abgeklärtheit immer wieder Traumatisierung und Empfindsamkeit durch.
       
       ## Teenager im Gangsta-Viertel
       
       Coleen und Tony Golding haben bereits zwei Pflegekinder, Sharyna und Pablo.
       Mit versteckter Neugier verfolgt die Vierzehnjährige die ungewohnt
       verbindlichen Umgangsformen der Familie. Naomi kann es kaum glauben, dass
       ihre Pflegemutter als Teenager in dem als Gangsta-Viertel verrufenen
       Crongton aufgewachsen sein soll.
       
       Ebenfalls mit großem Interesse belauscht sie danach einen Streit zwischen
       Tony und seinem Vater, in dem der alte Mann dem Sohn Vorwürfe macht, ein
       weißes Pflegekind aufgenommen zu haben. Doch auch das Jugendamt ist
       scheinbar nicht begeistert von dem Arrangement mit den Goldings, und Louise
       sucht weiter nach einer „passenderen“ Pflegefamilie für Naomi.
       
       Schon in seiner [2][vielbeachteten Crongton-Trilogie] beschrieb Alex
       Wheatle sprachlich überzeugend die Lebensrealität abgehängter Jugendlicher
       in einem fiktiven Londoner Vorort. In „Home Girl“ kümmert sich dagegen die
       staatliche Jugendfürsorge um Naomi. Sie hat überall ein eigenes Zimmer, oft
       sogar mit Fernseher. Sie ist satt und sauber. Ein Zuhause aber bekommt sie
       nicht.
       
       8 May 2020
       
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