# taz.de -- Sexuelle Gewalt gegen Kinder: Das hört nicht einfach auf
       
       > Missbrauch ist ein Massenphänomen. Einen Anlass für mehr Prävention
       > bieten die Ausgangsbeschränkungen.
       
 (IMG) Bild: Kindesmissbrauch findet innerhalb eines gewachsenen Sozialgefüges statt
       
       Seit die Kindergärten, Schulen, Spielplätze und Jugendfreizeiteinrichtungen
       coronabedingt geschlossen sind, melden sich immer wieder Menschen
       öffentlich zu Wort, die sich Sorgen um Kinder machen: PädagogInnen und
       JugendamtsmitarbeiterInnen befürchten, dass Kinder in der familiären
       Isolation [1][vermehrt Gewalt erleben]. Häusliche Enge, Partnerschaften
       unter Druck infolge wirtschaftlicher Unsicherheit – das sind Bedingungen,
       unter denen sich Aggressionen der Erwachsenen auf die Kleinsten und
       Schwächsten im Haushalt richten könnten, so die Befürchtung.
       
       Die derzeitigen Kontaktrestriktionen bringen es zudem mit sich, dass zu
       vielen Familien, die sonst engmaschig vom Jugendamt oder durch soziale
       Einrichtungen betreut werden, der Kontakt abreißt. Kinder, für die der
       Besuch der Schule oder des Jugendzentrums sonst eine Atempause von der
       häuslichen Situation bedeutet, hört und sieht man nicht mehr, was
       vielerorts als Alarmzeichen gewertet wird. Der Unabhängige Beauftragte der
       Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs,
       Johannes-Wilhelm Rörig, fürchtet, dass durch den Wegfall externer
       Flucht-und Hilfemöglichkeiten noch mehr Kinder als sonst Opfer sexuellen
       Missbrauchs durch Familienangehörige werden. Rörig hat jetzt eine Kampagne
       gestartet, mit der NachbarInnen oder Bekannte zum Anruf bei einer
       Kinderschutzhotline animiert werden sollen.
       
       Natürlich weiß noch niemand – weder Rörig noch die MitarbeiterInnen vom
       Elterntelefon „Nummer gegen Kummer“, bei denen gerade vermehrt Anrufe
       eingehen – verlässlich, ob seit Beginn des Corona-Lockdowns wirklich mehr
       Kinder sexueller Gewalt im familiären Umfeld ausgesetzt sind. Ob
       entsprechende Straftaten zunehmen oder ob dies nur eine Befürchtung von
       Fachleuten ist, wird sich frühestens an der Polizeilichen Kriminalstatistik
       im nächsten Jahr ablesen lassen. Und das auch nur zum Teil, da sexueller
       Kindesmissbrauch ein Delikt mit einem riesigen Dunkelfeld ist und die
       Polizeidaten nur den Bruchteil der Fälle erfassen, der überhaupt zur
       Anzeige gebracht wird. Es sind also nur Vermutungen.
       
       Und es gibt auch Stimmen, die sagen, dass die eindringlichen öffentlichen
       Warnungen vor einer Zunahme häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen
       überzogen sind. Thomas Fischer etwa, streitbarer Rechtskolumnist beim
       Spiegel, mokiert sich in seiner aktuellen Kolumne über eine „Dramatisierung
       der Opferperspektive“ und eine mit Macht herbeifantasierte Apokalypse, wo
       seiner Meinung nach derzeit alles normal läuft – wenn nicht sogar besser:
       Fischer stellt mit Blick auf die am 24. März veröffentlichte Polizeiliche
       Kriminalstatistik für 2019 fest: „Gewaltdelikte gesunken, sexueller
       Missbrauch erneut gesunken!“ Also warum die ganze Aufregung? Weil die
       Gutmenschen aus der Hilfsindustrie so gerne über Opfer sprechen?
       
       ## Bagatellisierung von sexueller Gewalt
       
       Fischers Polemik bewegt sich argumentativ auf unsicherem Boden: So ist zwar
       die [2][Zahl der Straftaten] gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt
       gesunken, nicht aber die Zahl der registrierten Fälle von sexuellem
       Missbrauch an Kindern unter 14 Jahren. Diese lag mit 13.670 im vergangenen
       Jahr um fast 11 Prozent über der von 2018. Was die Verbreitung von
       Missbrauchsabbildungen, sogenannter Kinderpornografie, angeht, stieg die
       Zahl der polizeilichen Ermittlungsverfahren sogar um knapp 65 Prozent.
       Fischers bagatellisierender Text ist trotzdem aufschlussreich, denn er
       illustriert geradezu beispielhaft das größte Problem, das wir in
       Deutschland im Umgang mit sexueller Gewalt gegen Kinder haben: Wir nehmen
       sie einfach nicht ernst genug.
       
       Genau zehn Jahre ist es jetzt her, dass eine Serie von Missbrauchsskandalen
       die Öffentlichkeit erschütterte: Canisius-Kolleg, Kloster Ettal,
       Odenwaldschule. Hunderten von Kindern wurde Gewalt angetan durch Menschen,
       denen sie als Schutzbefohlene anvertraut waren. Und meist waren die
       sexuellen Übergriffe innerhalb der betreffenden Institutionen lange bekannt
       gewesen, bevor sie von außen aufgedeckt wurden. Als 2010 mehrere solcher
       Langzeitskandale enthüllt wurden, fragte sich das ganze Land: Wie kann es
       sein, dass das so lange ging? Dass niemand etwas gemerkt hat, keiner den
       Mund aufgemacht, niemand das abgestellt hat?
       
       Das letzte Jahrzehnt, in dem so viel über Kindesmissbrauch berichtet und
       geforscht wurde wie nie zuvor, brachte einige neue Erkenntnisse: Dass
       „niemand etwas gemerkt“ hat, ist fast immer unwahr. Es handelt sich um
       Taten, die innerhalb eines gewachsenen Sozialgefüges stattfinden –
       ermöglicht durch KomplizInnen, gedeckt oder zumindest in Kauf genommen von
       MitwisserInnen.
       
       Was man aus den Enthüllungen von 2010 auch lernen konnte, ist: Es gibt
       keinen Gesellschaftsbereich, kein Milieu, in dem Erwachsene sich nicht an
       Kindern vergreifen. Es ist eben kein „katholisches Problem“ oder eines der
       1968er-Generation: Es geschieht in staatlichen Kinderheimen und
       christlichen Elite-Internaten, in grün-alternativen Wohngemeinschaften wie
       in Moscheegemeinden, in Kitas wie auf Kinderkrebsstationen. Am weitaus
       häufigsten finden sexuelle Übergriffe im familiären Nahbereich statt –
       nicht nur in sogenannten Risikohaushalten, sondern ebenso häufig seitens
       betuchter, gebildeter Eltern.
       
       Meist schaffen es die aufsehenerregenden Fälle in die Medien, wie der des
       Jungen aus Staufen, der von seiner Mutter und ihrem Lebensgefährten im
       Internet zur Vergewaltigung verkauft wurde, oder der Pädosexuellenring auf
       dem Campingplatz in Lügde. Doch hinter diesen besonders krassen Fällen
       stehen sehr viele mehr, die seit Jahrzehnten bundesdeutscher Alltag sind:
       Der ganz normale Missbrauch findet an allen Orten statt, an denen Kinder
       unterwegs sind, und das heißt auch zunehmend im Internet. Mehr als die
       Hälfte der Täter (und Täterinnen) sind übrigens keine triebgesteuerten
       Pädophilen, sondern „normal veranlagte“ Erwachsene.
       
       Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein Massenphänomen mit dem
       Verbreitungsgrad einer Volkskrankheit. Was die Zahlen angeht, weiß man das
       heute. Und auch, dass diese Taten lebenslange Folgen für die Opfer haben,
       streitet im Gegensatz zu früheren Zeiten kaum jemand ab. Aber statt den
       Kampf entschlossen aufzunehmen, mit den Mitteln der Prävention, der
       Strafverfolgung, der gesellschaftlichen Debatte, hangelt man sich von
       Skandal zu Skandal. Nach der Odenwaldschule und den Grünen kommt
       [3][Lügde], kommt Bergisch-Gladbach.
       
       ## Hangeln von Skandal zu Skandal
       
       Enthüllung, Skandal, nächster Skandal – und dann? Geht es immer so weiter.
       Dabei gibt es durchaus Erfahrungen, auf denen man aufbauen könnte: Viele
       Institutionen haben mittlerweile Aufarbeitungsprozesse durchlaufen. Und es
       gibt viele Betroffene – WHO-Schätzungen gehen davon aus, dass jedeR achte
       Erwachsene in seiner Kindheit sexuelle Gewalt erlebt hat, – die Auskunft
       darüber geben könnten, was missbrauchten Kindern hilft und welche
       Unterstützung sie als Erwachsene benötigen, um mit dem Erlebten
       zurechtzukommen.
       
       Sicher: Seit 2011 gibt es das Amt des Unabhängigen Beauftragten, seit 2012
       untersucht die Unabhängige Kommission systematisch sämtliche Formen von
       Kindesmissbrauch, und mit dem Betroffenenrat entstand eine einflussreiche
       Selbstorganisation. Doch diese Institutionen gleichen oft einsamen Rufern
       in der Wüste: Seit Jahren fordern sie, dass erlittenes Unrecht nicht
       vergessen werden darf, dass man daraus lernen muss für die Zukunft. Doch
       noch immer geraten Aufarbeitungsprozesse zum jahrelangen Gezerre: In dem
       baden-württembergischen Städtchen Korntal etwa erinnert weiterhin nichts
       daran, dass dort Mitglieder der pietistischen Brüdergemeinde über 30 Jahre
       lang Kinder schwer misshandelten. Auch die Opferentschädigung gestaltet
       sich zäh.
       
       Auch die Idee einer bundesweiten Zeitzeugenbörse von Betroffenen, die das
       individuelle Leid hinter den Zahlen sichtbar machen und über das Leben mit
       Missbrauchserfahrungen berichten können, kommt nicht voran, ebenso wie
       Initiativen, einen Gedenktag oder eine Gedenkstunde für Opfer sexueller
       Gewalt einzuführen. Man will es halt im Zweifel gar nicht so genau wissen.
       Auch so manche Untersuchung von Verantwortlichkeiten aus der Vergangenheit,
       wie im Fall des Berliner Jugendsenats, der bis 2003 Jungen an pädosexuelle
       Pflegeväter vermittelte, würden die Verantwortlichen wohl am liebsten in
       die Schublade legen – wären da nicht die Betroffenen, die um Entschädigung
       kämpfen.
       
       Es wird Zeit, eine Erinnerungskultur für Kindesmissbrauch zu entwickeln, um
       sichtbar zu machen, dass es nicht einfach so aufhören wird, dass dieses
       Verbrechen Teil unserer Gesellschaft ist. Damit Kinder künftig besser
       geschützt werden können, müssen die über die Jahre erlangten Erkenntnisse
       zur flächendeckenden Prävention genutzt werden. So müssen alle
       Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, verpflichtend Schutzkonzepte
       erarbeiten. Statistisch gesehen, sitzen in jeder Schulklasse ein bis zwei
       betroffene Kinder, durch die Schulpflicht gäbe es das Potenzial, sehr viele
       zu erreichen. Doch noch immer verfügen nur rund 13 Prozent aller Schulen
       über kundige AnsprechpartnerInnen und funktionierende
       Unterstützungsstrukturen. Auch Sexualaufklärung wird oft eher halbherzig
       betrieben – dabei sind Aufklärung und Hilfsangebote erwiesenermaßen
       erfolgreich darin, Missbrauchsbeziehungen zu entdecken und zu beenden.
       
       ## Jugendämter in der Krisenzeit aufstocken
       
       Studien zufolge sind die psychischen Langzeitfolgen von Missbrauch umso
       gravierender, je länger er andauert. Das heißt, dass alles daran gesetzt
       werden muss, früh zu intervenieren. Dazu muss vor allem das System der
       Jugendhilfe besser ausgestattet werden. Jugendämter, soziale Dienste und
       staatliche Unterbringungseinrichtungen sind momentan auch nicht ansatzweise
       in der Lage, ihrer Kinderschutzaufgabe in dem Umfang gerecht zu werden, wie
       es nötig wäre.
       
       Als Erstes muss in der jetzigen Krisenzeit in den Jugendämtern das Personal
       aufgestockt werden und müssen die Notbetreuungen für gewaltgefährdete
       Kinder in allen Bundesländern geöffnet werden. Und eigentlich bräuchte
       jedes Bundesland einen eigenen Missbrauchsbeauftragten, der Hilfsangebote
       lokal bündelt und neue Anlaufstellen schafft. All diese Forderungen werden
       seit Jahren von Experten erhoben. Doch die Umsetzung kostet Geld. Die
       Coronakrise könnte ein Anlass sein, auch hier umzudenken: jetzt investieren
       in Erinnerung, Prävention und Hilfe. Damit die Kriminalstatistik im
       nächsten Jahr keine hässliche Coronaspitze aufweist – die Zahlen sind auch
       so schon alarmierend genug.
       
       19 Apr 2020
       
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