# taz.de -- Auftragswerk für Beethovenjahr: Womöglich zum letzten Mal
       
       > Ein besonders feiner Programmpunkt: der Film „Wir haben die Schnauze
       > voll“ des britischen Konzeptkünstlers Jeremy Deller für den Kunstverein
       > Bonn.
       
 (IMG) Bild: Filmstill aus „Wir haben die Schnauze voll“ von Jeremy Deller
       
       Es ist kein Graffiti-Tag, es ist eine Marke: BTHVN2020. So streetwise
       klingt die offizielle Abkürzung des Beethoven-Jahres. Die zugehörige
       Internetseite verwendet praktischerweise das gleiche Kürzel. BTHVN? 2020
       jährt sich Ludwig van Beethovens Geburtstag zum 250. Mal. An der Bedeutung
       des Komponisten merkt man schon, dass das nur alle 50 Jahre stattfindende
       [1][„Beethoven-Jahr“] als konzertante Aktion von Bund, Land NRW, dem
       Rhein-Siegkreis und der Stadt Bonn gemeinsam gestemmt wird. Die ganze Welt
       ist eingeladen. Und die Internetseite verkündet daher einen „einzigartigen
       Schulterschluss“.
       
       Ein kleiner, besonders feiner Programmpunkt der Festivitäten ist „Wir haben
       die Schnauze voll“, ein Film, den der britische Konzeptkünstler [2][Jeremy
       Deller] im Auftrag des Bonner Kunstvereins am Geburtsort des Komponisten
       gedreht hat. Er ist ab heute zusammen mit einem weiteren Deller-Werk,
       „Putin’s Happy“, im Rahmen einer Ausstellung zu sehen. Auch in diesem Film
       spielt die Musik von Beethoven eine Rolle. Dazu später mehr.
       
       Dellers Wahl als Regisseur für ein Auftragswerk zum Beethoven-Jahr ist
       überraschend. Denn bislang ging er nur sehr vertraut mit den Insignien von
       Popkultur aus britischer Perspektive um. In dem Film „[3][Everybody in the
       Place“] setzte er etwa jungen britischen Student:innen mit migrantischen
       Wurzeln die Ravekultur Großbritanniens der späten Achtziger vor.
       Andererseits, der Umgang mit Beethoven hat längst Eingang in die
       Populärkultur gefunden, das weiß auch Deller und denkt an die Comicserie
       „Peanuts“ von Charles M. Schulz, der seiner Hauptfigur Charlie Brown den
       Beethoven-Fan Schroeder an die Seite stellte, was unzählige Verweise auf
       den Komponisten und dessen Heimatstadt Bonn zur Folge hatte.
       
       Der deutsche Filmtitel „Wir haben die Schnauze voll“ klingt nach renitenten
       Comic-Helden, darin porträtiert der bildende Künstler aber das Bonner
       Beethoven-Orchester bei einer Probe von zwei Sätzen der Siebten Sinfonie.
       Dazu stoßen Schüler:innen, die erstmals einer Orchesterprobe beiwohnen.
       Später sieht man diese Kinder bei einer Demonstration von Fridays for
       Future. Sie tragen Banner mit Slogans gegen die Untätigkeit der Erwachsenen
       angesichts des Klimawandels.
       
       „Wir haben die Schnauze voll“ beginnt mit einer Totalen auf das rheinische
       Braunkohlerevier Garzweiler, von den rauchenden Kühltürmen schwenkt die
       Kamera über zu Windrädern auf einem Feld, dann sehen wir Straßenszenen in
       Bonn, einen Bus, der eine belebte Kreuzung überquert, Fußgänger an einer
       Bahnunterführung, Rushhour-Alltag einer mittelgroßen westdeutschen Stadt.
       Dazu spielt ein einsames Cello. Allmählich setzen weitere
       Orchestermusiker:innen ein oder stimmen ihre Instrumente. Sorgsam, fast
       meditativ proben sie und lassen sich ein auf Beethovens Werk, dabei achtend
       auf die strengen Anweisungen ihres Dirigenten Dirk Kaftan, der mit ihnen
       die Partitur durchgeht.
       
       Die Kinder hören der Musikdarbietung konzentriert zu. Ihrer anfänglichen
       Überwältigung folgt bald der Impuls, sich dazu zu bewegen, sie bilden einen
       Kreis und tanzen um das Orchester. „Als ich elf Jahre alt war, habe ich
       erstmals mein Schulorchester erlebt, ein Haufen ungelenker Halbwüchsiger
       spielte mit, der wunderschöne Lärm, den sie zusammen entfesselt haben, hat
       mich geplättet. Dieses Erlebnis war eine Offenbarung für mich“, erklärt
       Jeremy Deller der taz.
       
       ## Furcht vor der Sturm-und-Drang-Gefühlswelt
       
       Die Tonspur verzichtet auf Kommentare zum Geschehen. In „Wir haben die
       Schnauze voll“ zu hören sind Ausschnitte aus dem ersten und dem finalen
       vierten Satz von Beethovens Siebter und das Klopfen des
       Dirigenten-Taktstocks. Umso drastischer wirkt es, wenn das Orchester mit
       Wucht einsetzt. Die fließende Vorwärtsbewegung der Streicher, der
       leidenschaftliche rhythmische Schwung wird anschaulich. Die Siebte ist kein
       Gassenhauer wie die Neunte Sinfonie oder die „Hammerklaviersonate“, aber
       sie hat vor allem im Finale jene stürmische Expressivität, für die
       Beethoven berühmt wurde. Das Künstlerego des Komponisten schwingt immer
       mit, Emotionen sind in der Siebten zum musikalischen Drama verarbeitet und
       in einzelne Töne wie eingraviert.
       
       Jeremy Deller erinnern Beethovens Widmungen und versteckte humanitäre
       Botschaften in der Musik wiederum an das Werk des britischen Dichters,
       Malers und Frühsozialisten William Morris: „Beide sagten sich vom Adel los,
       der sie finanzierte. In beiden stecken progressive politische Ideen, ein
       Impetus, politische Verhältnisse zu ändern, dem vermeintlichen Schicksal
       der eigenen Herkunft etwas entgegenzusetzen.“
       
       Vor Beethovens musikalischer Sturm-und-Drang-Gefühlswelt fürchtet sich
       Deller, zumindest ein bisschen. „Als mittelalter Engländer gestatte ich mir
       keinerlei Emotionen. Ich halte sie regelrecht unter Verschluss. Wenn meine
       künstlerischen Arbeiten Gefühle evozieren, versuche ich der künstlerischen
       Arbeit stets neutral zu begegnen. Gefühle haben darin nichts verloren.“
       
       „Wir haben die Schnauze voll“ ist emotionsgeladen. Das liegt vor allem an
       den Kindern und deren furchtlosem Umgang mit der mächtigen Musik.
       Beethovens Einbeziehung von der Natur, sein Freiheitsgedanke, mit dem er
       das ganze Komponistenleben über rang, abgeleitet von den Prinzipien der
       Französischen Revolution, die dem Komponisten wichtig waren, imponieren
       Deller. Der Brite kannte die Siebte Sinfonie nicht, hatte zwar spezifische
       Bilder zu Beethovens Musik im Kopf, übermittelt durch deren inflationären
       Einsatz in Filmen.
       
       ## Die Pianistin als Zombie
       
       Dellers Versuch, ohne vorgefasste Meinung mit Beethovens Siebter wie mit
       einer weißen Leinwand zu arbeiten, scheiterte zunächst. Die Ausgangsidee,
       Kinder bei der Probe zu beobachten, hat er verworfen. „Beethovens Musik ist
       weltumarmend, sie gibt mir das Gefühl, lebendig zu sein, und je mehr ich
       sie gehört habe, desto klarer wurde mir, dass das Engagement der Kinder für
       Fridays for Future mit ins Bild gehört, dass die Musik aus dem Raum der
       Probe hinausweist auf etwas Größeres.“
       
       1970, beim letzten Beethoven-Jahr zu seinem 200. Geburtstag gab es auch
       einen Auftragsfilm, „Ludwig van“, gedreht vom argentinisch-deutschen
       Komponisten Mauricio Kagel. Die filmische Collage sorgte bei ihrer
       Uraufführung für einen Skandal. Nicht weil Kagel bildende Künstler wie
       [4][Dieter Roth] und Joseph Beuys zeigt, wie sie sich die Räume von
       Beethovens Wohnhaus in Bonn quasi als Atelier aneignen. In einer Szene ist
       auch der Geist der 1968 verstorbenen Pianistin und Beethoven-Interpretin
       Elly Ney zu sehen, dem beim Spiel von der „Hammerklaviersonate“ wie einem
       Zombie immer längere Haare wachsen, die irgendwann den Flügel überwuchern.
       Es war Kagels bissiger Kommentar zur offenen Nazi-Sympathie der Musikerin.
       
       „An das Beethoven-Jahr 1970, habe ich keinerlei Erinnerung, da war ich noch
       zu jung“, sagt der 53-jährige Deller. „Wer weiterdenkt, könnte auf die Idee
       kommen, dass 2020 womöglich das letzte Beethoven-Jubiläumsjahr gefeiert
       wird. Wir sollten ihn also gebührend feiern. Gibt es in 50 Jahren überhaupt
       noch unseren Planeten?“ Der Bewegungsdrang der Kinder im Film macht
       Hoffnung, dass das klappt. Sie rennen nicht nur ums Orchester, sie rennen
       auch mit Wonne zur Fridays-for-Future-Demonstration.
       
       ## „Jedes Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus“
       
       [5][„Putin’s Happ]y“, Dellers anderer, in Bonn zu sehender Film, ist da
       schon düsterer. Mit dieser Langzeitbeobachtung hat der Regisseur über
       Monate hinweg Demonstranten am britischen Parlament in London zu ihren
       Ansichten befragt, er zeigt ihren politischen Protest, lässt sie reden.
       Brexit-Befürworter und -Gegner. Einer von ihnen ist Orchestermusiker, neben
       einer EU-Fahne spielt er Beethovens „Ode an die Freude“, orchestriert von
       Dauerregen und heftigen Windböen klingt es nicht sehr optimistisch.
       
       „Auf der anderen Straßenseite sitzen Politiker wie Jacob Rees-Mogg und
       Nigel Farage, die ihre Auftritte im Parlament gestalten, als seien sie eine
       Comedy-Show. Mich erinnert ihre mediale Inszenierung an den Faschismus.
       Nicht, dass sie braune Uniformen haben, sie tragen die gleichen Anzüge wie
       Leute aus der Mittelklasse, aber sie stiften diese Leute an, sich eine
       faschistoide englische Identität zuzulegen.“
       
       In „Putin’s Happy“ ist eine Pro-Brexit-Demonstration der ultrarechten
       National Front zu sehen, Hooligans, Nazis und Verschwörungstheoretiker
       laufen mit. Im Film bringt Deller ein Zitat von Primo Levi unter: „Jedes
       Zeitalter hat seinen eigenen Faschismus.“ Gut, dass „Putin’s Happy“
       zusammen mit „Wir haben die Schnauze voll“ zu sehen ist.
       
       14 Feb 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Das-Beethoven-Jahr-2020/!5653083
 (DIR) [2] /Kuenstler-Jeremy-Deller/!5037858
 (DIR) [3] https://www.youtube.com/watch?v=N0xtv-bWYbQ
 (DIR) [4] /Berliner-Ausstellung-ueber-Dieter-Roth/!5016524
 (DIR) [5] https://vimeo.com/375381761
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Julian Weber
       
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