# taz.de -- Kinoempfehlung für Berlin: Denker der Neuen Welle
       
       > Pavel Juráček war einer der maßgeblichen Erneuerer des tschechischen
       > Kinos der 60er Jahre. Das Zeughauskino würdigt sein Werk mit einer
       > Filmreihe.
       
 (IMG) Bild: „Late August at the Hotel Ozone“
       
       Ein Autounfall, von einem Hasen auf der Straße verursacht, verschlägt einen
       Mann in eine seltsame Landschaft. Seine erste Begegnung mit den Bewohnern
       des Landes Balnibarbi besteht in einem Verhör vor Studierenden in einem
       Hörsaal. Der Tascheninhalt wird vor ihm auf einem Tisch ausgebreitet und in
       mehr oder weniger verdächtige Gegenstände kategorisiert. Je mehr der Mann
       über Balnibarbi, seine Bewohner und ihre Lebensweise versteht, desto
       befremdlicher erscheint ihm das Land.
       
       Die Bewohner befolgen strikt die Regeln, die ihnen auferlegt wurden, und
       leben in Selbsttäuschung. „Případ pro začínajícího kata“ (Ein Fall für den
       neuen Henker), eine Paraphrase von Jonathan Swifts „Gullivers Reisen“, ist
       1970 die dritte und letzte Regiearbeit des tschechoslowakischen Regisseurs
       und Drehbuchautors Pavel Juráček (1935–1989). Das Zeughauskino widmet der
       kurzen Karriere Juráčeks von Ende Januar bis Mitte Februar eine kleine
       Filmreihe.
       
       Im August 1968 inmitten der sowjetischen Invasion in der Tschechoslowakei
       notiert Juráček in sein Tagebuch: „Sie können nichts mit uns anfangen,
       starren uns mit offenem Mund an. Ein Nashorn gegen einen Schmetterling.“ Es
       fällt nicht schwer, die Begegnung des Mannes mit den Bewohnern in
       Balnibarbi mit dem Aufeinanderprallen mit der Gewalt der Macht wie bei der
       Niederschlagung des Prager Frühlings in Verbindung zu setzen.
       
       Knapp ein halbes Jahr nach der sowjetischen Invasion erfährt Juráček zu
       seiner eigenen Überraschung, dass er „Ein Fall für den neuen Henker“ doch
       drehen darf. Die Dreharbeiten beginnen im März und enden im September 1969.
       Die Dreharbeiten Juráčeks liefen parallel mit der ersten Phase der
       „Normalisierung“ unter dem neuen Staatschef Gustáv Husák, der im April 1969
       sein Amt übernahm und bis in den Herbst 1969 den Großteil der Reformer aus
       allen wichtigen Ämtern von Staat und Partei ausgeschlossen hatte.
       
       Im Mai 1971 erklärte Husák auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei die
       „Normalisierung“ für abgeschlossen. Die Filmemacher werden in drei Gruppen
       geteilt: die erste darf weiter arbeiten, die zweite muss sich geläutert
       zeigen, die dritte wird gekündigt. Juráček erhält kurz darauf die Kündigung
       von dem Filmstudio, für das er gearbeitet hat, seine Filme wandern auf den
       Index.
       
       „Ein Fall für den neuen Henker“ startet zwar noch kurz in den Kinos,
       verschwindet dann jedoch schnell. In seinem Tagebuch notiert Juráček: „Ich
       sehe mir ‚Gulliver‘ staunend an. Als würde ich in einen Spiegel sehen.“
       Juráčeks erster abendfüllender Film ist sein letzter geblieben.
       
       Während seines Studiums als Dramaturg an der Prager Filmhochschule Famu
       Ende der 1950er Jahre gilt Juráček als großes Talent. Er schreibt die
       Drehbücher für eine ganze Reihe von Filmen von Kolleginnen und Kollegen.
       Ein Kurzfilmprogramm der Retrospektive zeigt eine Auswahl dieser Arbeiten.
       Darunter ein früher Kurzfilm von Věra Chytilová: „Strop“ („Decke“) über ein
       junges Model, das an der Oberflächenwelt, von der sie ein Teil ist, zu
       zweifeln beginnt.
       
       Unter den Darstellern sind einige Protagonisten der tschechoslowakischen
       Neuen Welle wie Jiří Menzel und Miloš Forman. In den Jahren nach dem
       Studium verfasst Juráček eine Reihe von Drehbüchern zu zentralen Filmen der
       Neuen Welle wie „Sedmikrásky“ („Tausendschönchen“), aber auch zu großen
       Produktionen wie Jindřich Poláks Science-Fiction-Film „Ikarie XB 1“ (1963)
       und Karel Zemans „Chronik eines Hofnarren“ (1964).
       
       Zeitgleich dreht Juráček in Koregie mit dem Regisseur Jan Schmidt seinen
       ersten eigenen Film, den halblangen „Postava k podpírání“ („Joseph Kilian“)
       – die kafkaeske Geschichte einer Suche nach einem jungen Mann voller
       surrealer Settings. 1966 folgt sein zweiter Film „Každý mladý muž“ („Every
       Young Man“) mit zwei absurden Episoden aus der Zeit seines Militärdienstes.
       
       Im Jahr darauf liefert er das Drehbuch zu Jan Schmidts apokalyptischem
       „Konec srpna v hotelu Ozon“ („Late August at the Hotel Ozone“). Der Film
       beginnt mit einem vielsprachigen Countdown. Dann schweift eine Gruppe von
       Frauen durch die zerstörte Landschaft und versucht zu überleben. Wie so oft
       in der tschechoslowakischen Neuen Welle ist der Film getragen von einer
       beeindruckenden Kameraarbeit – in diesem Fall von Jiří Macák.
       
       Bevor die Gruppe Frauen als solche erkennbar ist, führt die Kamera sie
       zusammen. Einzeln treten sie rechts ins Bild hinein, die Kamera folgt ihnen
       eine Weile, wischt dann nach rechts und endet bei einer weiteren
       Protagonistin, der erneut nach links in den Film hinein gefolgt wird. „Late
       August at the Hotel Ozone“ eröffnet diesen Donnerstag die Retrospektive zu
       Pavel Juráčeks kleinem, aber ausgesprochen beeindruckendem Werk.
       
       22 Jan 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fabian Tietke
       
       ## TAGS
       
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 (DIR) Prager Frühling
       
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