# taz.de -- Ehemals Obdachloser über Zählung: „Nicht jeder ist empfänglich“
       
       > Am Donnerstag diskutiert der Bundestag über die erste deutschlandweite
       > Wohnungslosenzählung. Dirk Dymarski hält wenig davon. Er lebte auf der
       > Straße.
       
 (IMG) Bild: Seltene Gaben: Obstspende für Wohnungslose
       
       taz: Herr Dymarski, Sie waren vier Jahre lang obdachlos. Obdachlose sollen
       bald statistisch erfasst werden. Über [1][ein entsprechendes Gesetz] stimmt
       der Bundestag am Donnerstag ab, in Berlin soll Ende Januar gezählt werden.
       Wie finden Sie das?
       
       Dirk Dymarski: Wenn man mir in die Hand versprechen würde, das man wirklich
       das Hilfesystem besser ausbauen würde, würde ich mitmachen. Aber das kommt
       natürlich auch ganz auf die Tagesform an. Wir müssen uns vorstellen, da
       laufen Ende des Monats über 3.000 Freiwillige durch Berlin und sprechen
       Fremde auf der Straße an. Nicht jeder ist zu jeder Zeit gut drauf und
       empfänglich für so etwas. In einem schlechten Moment hätte ich mich
       sicherlich nicht zählen lassen und mich davor gedrückt.
       
       Das geht so einfach? 
       
       (lacht) Das ist ja das lächerliche. Gerade in Berlin. Es heißt, es werden
       keine Kellerräume, keine Dachböden oder keine Parklandschaften zum Zählen
       betreten, wenn die Gefahr zu groß ist. Wer wird dann gezählt? Fest steht,
       wer nicht gezählt oder befragt werden möchte, taucht unter. Und in großen
       Städten gibt es dafür genug Möglichkeiten. Die Dunkelziffer ist hoch und
       wird es wahrscheinlich bleiben. Auch Doppelzählungen sind nicht
       ausgeschlossen. Kurzum: Die Zahlen werden nicht repräsentativ sein.
       
       Berlin veranstaltet die Zählung in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar
       unter dem Motto [2][„Nacht der Solidarität“]. Wie klingt das für Sie? 
       
       Welche Solidarität? Solidarisch ist vielleicht, dass sich Tausende Helfer
       zusammenschließen. Den Menschen auf der Straße gegenüber sehe ich keine
       Solidarität. Im Vorfeld der Aktion wird von der „Steuerung und
       Unterbringung wohnungsloser Menschen“ gesprochen. Das hört sich für einige
       Betroffene menschenverachtend an. Der Umgang mit Obdachlosen ist vielerorts
       respektlos und in vielen Wohnheimen wird die Menschenwürde mit Füßen
       getreten. Ich glaube außerdem, dass die Gefahr von Zwangsräumungen steigt.
       Werden auf einem Platz viele Obdachlose gezählt, kann es zu solchen
       Maßnahmen kommen.
       
       Durch die Zählungen soll die Situation obdachloser Menschen verbessert
       werden und Hilfe schneller ankommen. Aus Ihrer Erfahrung: Was hilft gegen
       Obdachlosigkeit? 
       
       An bessere Hilfe nach der Zählung glaube ich nicht. Viele Einrichtungen
       mussten aufgrund personeller oder finanzieller Probleme in den letzten
       Jahren schließen. Auf der anderen Seite gibt es genug Leerstand. Es muss
       Geld in die Hand genommen werden und damit müssen bezahlbarer Wohnraum
       geschaffen werden. Und damit meine ich keine Behelfsunterkünfte à la Tiny
       House. Da kann ich mich auch gleich in ein Kofferschließfach am
       Hauptbahnhof legen.
       
       Wie kam es dazu, dass Sie obdachlos wurden? 
       
       Bis 2002 hatte ich einen festen Arbeitsplatz und Wohnraum. Nach dem Tod
       meines Vaters lebte ich mit meiner Mutter allein zusammen. Ich wollte
       ausziehen, später kam es zum Zerwürfnis. Ich verließ die Wohnung und
       landete auf der Straße. Das war dann von heute auf morgen wie der Anfang
       vom Ende.
       
       Wie haben Sie dort gelebt? 
       
       Ich habe mich zu dieser Zeit quer durch das Ruhrgebiet geschlagen. Von
       Bochum nach Essen, weiter nach Duisburg und Düsseldorf. Ich lebte von
       Notunterkunft zu Notunterkunft. Irgendwann kam ich dann nach Berlin, auch
       weil ich hörte, die Obdachlosenversorgung sei dort besser. In Bochum
       schlief ich in Unterkünften, wo die Matratzen sprechen konnten.
       
       Was hat sich seitdem getan? 
       
       Heute bin ich nicht mehr obdachlos und lebe in einem Wohnprojekt in
       Freistatt in Niedersachsen. Dort arbeite ich in der Koordinierungsstelle
       der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen. Dieses Jahr bin ich im 20.
       Jahr wohnungslos.
       
       Wie unterscheiden sich Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit? 
       
       Wohnungslos bedeutet ohne festen Wohnsitz. Man lebt aber nicht auf der
       Straße. Viele Betroffene kommen bei Freunden oder Bekannten oder in
       Wohnprojekten unter. Der Obdachlose schläft mit Schlafsack und allem Drum
       und Dran auf der Straße.
       
       16 Jan 2020
       
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