# taz.de -- Verzicht als Lebensmaxime: Besitz wird zur Belastung
       
       > Trendwende beim Konsum: Ein leeres Heim gilt als Statussymbol, die
       > Angebotsflut überfordert viele Verbraucher.
       
 (IMG) Bild: Sie gilt als die Päpstin des Ausmistens und Aufräumens: die Japanerin Marie Kondo
       
       Tokio/Berlin taz | Die Religionsstifter wussten es schon immer: Besitz
       macht nicht glücklich. Jesus und Buddha waren hier einer Meinung, und viele
       große Philosophen stimmen ihnen zu. „Ich besitze nichts, damit ich nicht
       von den Dingen besessen werde“, wird der griechische Philosoph Antisthenes
       zitiert. Sein Schüler Diogenes machte daraus ein praktisches Programm und
       lebte freiwillig arm in seiner Tonne. So geht es in der Geistesgeschichte
       über die Jahrhunderte weiter.
       
       Nach Jahrzehnten einer kaum gebremsten Konsumbegeisterung hat die Loslösung
       vom Besitz derzeit wieder Konjunktur. Auch wenn die Normalbürger heute
       nicht so weit gehen wie einst die Philosophen, geht derzeit eine Welle des
       Ausmistens und Aufräumens durch die Haushalte. Ratgeberbücher übertreffen
       sich in Varianten des alten Spruches „Weniger ist mehr“, ausgewalzt auf
       viele Kapitel.
       
       Die Päpstin der neuen Bewegung ist unbestritten [1][Marie Kondo], eine
       Ordnungsexpertin, die zuletzt durch eine Serie auf der Videoplattform
       Netflix zusätzliche Prominenz erlangte. Die 34-jährige Japanerin wirkt bei
       ihren Serien-Einsätzen in den USA etwas unwirklich. Stets trägt sie Röcke,
       nie Hosen. Im Vergleich zu den amerikanischen Hausbesitzern wirkt sie
       ätherisch und fast etwas zerbrechlich. Sie verbeugt sich ständig und dankt
       ausgedienten Socken in kleinen Ritualen für ihren treuen Einsatz am Fuß.
       Kondo flötet ihre Weisheiten mit comichaft hoher Stimme, bleibt aber beim
       Ausmisten kompromisslos. Die Zuschauer ergötzen sich daran, wie diese
       Aufräum-Fee die Hausbesitzer mit sanften Druck dazu bringt, säckeweise
       Gerümpel rauszuschmeißen.
       
       Kondos Bücher haben sich weltweit 8,5 Millionen Mal verkauft. Doch auch
       jenseits des Phänomens Kondo war die Zeit offenbar reif für eine
       Rückbesinnung auf das Weniger. Das zeigt eine lange Reihe von anderen
       Büchern zum Thema, die bereits erschienen ist. Im Buchladen findet sich ein
       Dutzend Autorinnen und Autoren mit Schlagworten im Titel wie „Minimalismus“
       oder „Less“. Es sind stets Varianten des Lieds vom entrümpelten Lebensstil
       – physisch und geistig.
       
       Aus Kommentaren im Netz zeigt sich: Viele der Netflix-Zuschauer finden
       zwar, Kondo übertreibe, indem sie sogar Bücher wegwerfen lässt. Doch kaum
       einer nimmt sich nicht vor, sich nicht auch vom Geist des Ausmistens
       anstecken zu lassen. Kondos Lehren werden zum Gesprächsthema auf Partys.
       Ganz offensichtlich hat sich etwas verändert: Der Konsum ist uns über den
       Kopf gewachsen. „Viele Menschen leiden heute darunter, dass sie viel mehr
       haben, als sie brauchen“, fasst Kondo gegenüber der taz die Grundlage ihres
       Erfolgs zusammen. „Das ganze Zeug wird zu einer Belastung.“
       
       ## Wenig Freude durch neue Geräte
       
       In der Nachkriegszeit, nachdem die Haushalte wieder bei null angefangen
       haben, werden die ersten Anschaffungen noch echte Freude gebracht haben.
       Doch schon wenige Jahrzehnte später brachten immer neue Klamotten und
       Geräte bei Weitem nicht mehr so viel Freude. Heute trägt die Flut der
       Discount-Waren vor allem zur Verstopfung des Wohnraums bei, wie Kondos
       Besuche zeigen.
       
       Dieser Effekt ist längst auch wissenschaftlich belegt. Der Ökonom Tibor
       Scitovsky hat schon 1971 festgestellt: „Es gibt einen Konflikt zwischen
       dem, was ein Mensch haben möchte, und dem, was ihm wirklich Befriedigung
       verschafft.“ Damals erlebten die USA die erste echte Phase des Überkonsums
       – und der machte viele Bürger regelrecht unglücklich, wie Scitovsky
       anmerkte. Die Mehrheit der Haushalte hatten längst, was sie brauchten – und
       kauften dennoch immer weiter. Die Leute sehnen sich stattdessen jedoch nach
       Anerkennung und einem Sinn im Leben.
       
       Der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton wies später nach, dass
       zusätzlicher Wohlstand die Haushalte oberhalb eines Einkommens von 75.000
       Dollar nicht glücklicher macht. Sie haben dann alles, was sie brauchen,
       plus komfortable Absicherung für Notlagen. Zudem sinkt über die Jahrzehnte
       der Anteil dessen, was die Leute für wirklich notwendige Dinge wie
       Nahrungsmittel und angemessene Kleidung ausgeben müssen. Schließlich steigt
       infolge des Wirtschaftswachstums die Kaufkraft. Trotzdem ist eine Mehrheit
       nicht zufriedener als vorher.
       
       ## Ohne Smartphone in gestopften Socken
       
       Einer der wenigen, die heute in Deutschland den Idealen der alten
       Philosophen nahekommen, ist der Wachstumskritiker [2][Niko Paech]. Der
       Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Siegen wusste schon immer,
       was viele Medienkonsumenten jetzt auf Netflix lernen, und lebt einen
       reduzierten Lebensstil. Paech verzichtet aufs Smartphone. Er stopft seine
       Socken, wenn sie Löcher haben, fährt Rad statt Auto. Das alles verschaffe
       einen Zugewinn an Lebensqualität, sagt Paech. „Es gibt klare
       Forschungsergebnisse, die zeigen: Nach Erreichen einer bestimmten Sättigung
       bringt Wirtschaftswachstum keine Steigerung des Wohlbefindens mehr.“
       
       Paech sieht den Knackpunkt anders als Kondo nicht beim Platz, sondern bei
       der zur Verfügung stehenden Zeit. Das gilt besonders für die Elektronik:
       Jedes neue Gerät nimmt Aufmerksamkeit in Anspruch und verlangt Zeit, um es
       zu nutzen. Die heutigen Einkommen erlauben zwar die Anschaffung immer neuer
       Apparate, doch der Tag wird davon nicht länger. „Wir muten uns in immer
       neuen Kaufhandlungen immer mehr Objekte zu“, sagt Paech. „Das überfordert
       unsere Fähigkeit, den Nutzen dieser Dinge abzuschöpfen.“
       
       Das Ergebnis: Die Wohnung ist vollgestopft, der Überblick geht verloren,
       und die Leute sind gestresst. Sie fragen sich, wo die ganze schöne
       Lebenszeit bleibt. Handy, Tablet, Spielkonsole und PC verheißen Spaß, doch
       sie konkurrieren auch mit immer neuen Apps um die Konzentration. Aldi,
       Lidl, Netto, Penny, Hit und Norma drängen dazu jede Woche mit neuen
       Aktionsangeboten in die Haushalte. Schwingsägen, Memo-Visco-Chip-Kissen,
       die „Isolierkanne Samba QuickExpress“ mit Patentverschluss: Die Waren
       werden immer spezialisierter.
       
       ## Lappen statt Window-Cleaning-Set
       
       Statt der Popcornmaschine würde ein einfacher Topf zwar ebenfalls
       ausreichen, um Puffmais zu machen. Und Fensterscheiben lassen sich auch mit
       einem gewöhnlichen Lappen statt des Profi-Window-Cleaning-Sets sauber
       bekommen. Die Leute können diesen Angeboten jedoch kaum widerstehen, wie
       die Verkaufszahlen zeigen. Im Bereich Textil sieht es noch schlimmer aus.
       Primark mit seiner Kleidung im Kilo lässt die traditionellen Billigmarken
       wie H&M schon wie behäbige Edelmarken erscheinen.
       
       Kein Wunder, dass Kondo auch knappe zehn Jahre nach Erscheinen ihres Buches
       noch rasend populär ist. Sie gilt dabei völlig zu Unrecht als die
       Predigerin des Wegwerfens. Ihr Hauptaugenmerk liegt darauf, was der Mensch
       behalten sollte – nämlich das Wesentliche. Kondo sagt hier das Gleiche wie
       Paech: Es wäre besser, von Anfang an weniger besitzen zu wollen. „Man
       sollte auch in den vielen preiswerten Klamottenläden nur das anschaffen,
       was man wirklich braucht“, sagt die Japanerin. Wer ihre Methode anwende,
       kaufe hinterher bewusster ein.
       
       Ihre Lehre sieht vor, zu Anfang alle seine Sachen in einer großen Aktion
       auszubreiten und zu sortieren. „Dann sieht man seinen Besitz in einem
       anderen Licht“, so Kondo. Es gebe Fälle, in denen ihre Methode eine
       regelrechte Einkaufssucht geheilt habe. Kondo ist sich aber sicher: „Wer
       sie anwendet, ist zufriedener mit dem, was er hat.“ Die meisten Anwender
       entdecken auch erst durch erst durch den Aufräumtag in den Fluten ihrer
       Habseligkeiten wieder, was sie eigentlich besitzen.
       
       31 Dec 2019
       
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