# taz.de -- Eisberge vor Neufundland: Ein weißer Star des Ozeans
       
       > Neufundland ist eine Insel, auf der niemand weiter als 90 Kilometer vom
       > Meer entfernt wohnt. Wer dorthin kommt, liebt die Ereignislosigkeit.
       
 (IMG) Bild: Eisberg gucken vor der Küste Neufundlands
       
       Wenn so ein Eisberg wüsste, was ihn erwartet. Knarzend, 1.600 Seemeilen von
       Neufundland entfernt, löst er sich vom Grönlandgletscher, kracht lärmend
       ins Meer und tritt seine Fahrt gen Süden an, wo er schließlich
       dahinschmilzt.
       
       Gemeinsam mit seinen Brüdern, jährlich an die 4.000 bis 8.000, nimmt der
       eisige tonnenschwere Kerl zunächst Kurs auf Iceberg Alley. Dort, nach gut
       zwei Jahren, wird der zackige, weiß-blau schimmernde Brocken sehnsüchtig
       erwartet. In Wasserschutzkleidung eingemummelte Gestalten umkreisen ihn auf
       Booten und können gar nicht aufhören, zu fotografieren und zu filmen.
       
       Er ist der Star des Ozeans in der nordischen Wärmeperiode, mehrere Meter
       hoch, mit zehnmal so langen Beinen unter Wasser. Und was hat es mit der
       blauen Farbe auf sich, mitten auf der weißen Fläche? Es sind keine
       Frostbeulen, aber schon so etwas wie Schmerzstellen: Schneemassen, die sich
       unzählige Male aufeinandergelegt haben, geschmolzen und wieder gefroren
       sind. Die innen verbliebenen Luftbläschen verfärbten sich von einem grellen
       Weiß in ein schimmerndes Blau. Doch daran kann sich ein Eisberg nicht
       erinnern, das alles geschah vor ewigen Zeiten, hat er doch an die 10.000
       Jahre auf dem Buckel.
       
       Es sind jedoch nicht nur neugierig im Boot Heranschippernde oder zähe
       Zaungäste am neufundländischen Ufer, die ihn beobachten, es sind auch jene,
       die sich direkt an ihn heranmachen, an seinem Body herumhacken, sogar ganze
       Teile absprengen. Aber wer die stolze Größe eines Einfamilienhauses hat,
       der kann es verknusen, wenn ihm was vom Anbau fehlt. Kleiner werden,
       abspecken während der langen Reise, das ist ohnehin der unaufhaltsame
       Verlauf eines Eisberglebens.
       
       ## Unterwegs mit dem Eisbergspezialisten
       
       Jedes Jahr von Frühjahr bis Spätsommer erwacht das menschenleere Quirpon
       (sprich: kar-poon) Island, wenige Kilometer vor der Nordspitze Neufundlands
       zu einer gewissen Geschäftigkeit. Da schippert der Eisbergspezialist Ed
       English mit seinem roten Zodiac Urlauber auf das Mini-Eiland, das gerade
       nal sieben Kilometer lang und drei Kilometer breit ist. Der hiesige
       Unternehmer ist Inhaber des Hotels [1][Lighthouse Inn], eines
       hundertjährigen Leuchtturms mit zwei Kapitänshäusern, in denen seine Gäste
       wohnen.
       
       Der schlanke, sportliche Mann im orangefarbenen wasserdichten Overall
       liebt es, übers Wasser zu gleiten und dabei von seiner Heimat zu erzählen.
       Leicht schaukelnd und mit dem salzigen Wellengeschmack auf den Lippen,
       erfährt man von seinen Vorfahren, die allesamt aus Neufundland stammen.
       
       Er schwärmt von seinem Großvater, der dabei war, als vor hundert Jahren das
       Dampfschiff „SS Ethie“ hier bei schwerem Sturm auf Grund lief und alle 92
       Passagiere gerettet wurden, darunter auch ein Baby, das man in einem
       Postsack an Land schickte. Immer noch sind die rostigen Wrackteile von
       Motoren und Winden zu sehen, die in der Nähe von Cow Head im Westen liegen.
       
       Ed ist Lokalpatriot, der [2][Neufundländer Geschichte] mitschreiben will
       und auch deshalb 1998 den Leuchtturm kaufte, zehn Gästezimmer einrichtete,
       hübsch, mit handgefertigten Betten und farbigen Quilts, alles spartanisch.
       Es gibt weder Radio noch Fernseher noch Internet, dafür den irren Ausblick
       durch niedrige Fenster über das Meer und die felsige, karge Insel.
       
       Bootsfahrten zu den Eisbergen, entlang der Buchten von Quirpon Island, sind
       seine Lieblingsbeschäftigung, und bei heftigem Wellengang läuft er zu
       Höchstform auf, im Gegensatz zu manch bleicher werdendem Mitfahrer. Doch
       übel kann einem nur werden, wenn man seinen Rat nicht befolgt: Augen auf
       die Wellen richten, damit das Gehirn die Schaukelsignale verarbeiten kann,
       etwas Brot mümmeln, damit der Magen etwas zu tun hat und nicht rebelliert.
       Wer das befolgt, kann die Achterbahnfahrt über das Meer zu den weißen
       Giganten durchaus genießen.
       
       ## Ein Leuchtturm für Gäste
       
       In den Buchten verweilen einige Eisberge länger als auf offener Strecke,
       auch hier im Norden, vor der Küste mit der kleinen brauen Hütte, die ein
       neufundländischer Autor gebaut hat, der in der Einsamkeit Romane und Krimis
       schrieb: [3][Earl Pilgrim] ließ balgende Schiffbrüchige an Land kommen,
       geschasste Frauen stranden, die wegen Ehebruch in die Verbannung geschickt
       wurden.
       
       Pilgrims Bücher wurden weltweit verlegt, einzelne mit Auflagen von 100.000,
       was den Eisbergspezialisten Ed English nicht überrascht: „Wenn es wie bei
       uns draußen stürmt, der Regen gegen das Fenster peitscht, man drinnen im
       Warmen sitzt, über Mord und Totschlag liest und dabei einen Rum trinkt –
       wie kann man sich besser entspannen?“ Ein breites schelmisches Lächeln
       huscht über sein schmales, wettergebräuntes Gesicht, seine Augen hinter der
       randlosen Brille funkeln spitzbübisch.
       
       Dass er durch sein Lighthouse Inn Besucher auf die Insel gelockt hat, das
       will schon was heißen, denn Quirpon Island war an sich kein begehrenswerter
       Ort. Im 16. und 17. Jahrhundert nannten Seeleute die Insel den Hort der
       Dämonen, man glaubte, dass da wilde Tiere, rote Teufel und mythische
       Bestien hausten, auf der Lauer lagen, um sich in vorbeifahrende Schiffe
       einzuschleichen oder jeden, der es wagte, seinen Fuß auf das abgelegene
       Ländchen zu setzen, mörderisch zu quälen. Diese Kreaturen seien „so
       furchterregend, dass französische Seeleute nur an Land gehen würden, wenn
       sie Kruzifixe in der Hand hätten“, schrieb der amerikanische Schriftsteller
       Charles M. Skinner.
       
       Wer heute nach Quirpon Island kommt, liebt die Ereignislosigkeit. Oder will
       wandern, entlang schroffer Felsen, auf steinig knirschendem Boden, mit
       Blick auf das weite Meer und die funkelnden Quarzkristallflocken in den
       Süßwasserteichen im Inselinnern. So wie Barbara Wagner aus Hessen, die
       ihrem Mann Robert zum Geburtstag zwei Leuchtturmnächte schenkte. „Ich
       wollte fernab vom Touristenrummel sein, zu zweit an einem richtig
       abgelegenen Ort der Welt. Es ist ein tolles Gefühl, kein Autolärm, nur die
       Geräusche der Brandung, das Schwirren der Seevögel und des Nebelhorns.“
       
       ## Eisbergbier in blauen Flaschen
       
       Die beiden Senioren touren seit sieben Wochen durch Kanada und sind nun an
       ihrem Traumziel angekommen. Sie wollten auch Eisberge sehen, erzählen sie
       in dem holzgetäfelten Restaurant, bestellen Kabeljaugratin und trinken
       Rotwein, dazu viel Wasser. Eisbergwasser natürlich. „Das schmeckt wie
       frisch im Mund geschmolzener Schnee“, erklärt Ed, „und ist ein Rohstoff,
       mit dem sich Geld verdienen lässt.
       
       Kaum ein Wasser der Erde ist so rein wie das der Eisberge. Nie ist es durch
       Sand- oder Erdschichten gesickert, nie kam es mit Dünger in Kontakt. Der
       Gletscher, von dem es stammt, besteht aus dem Wasser der Niederschläge, die
       vor Tausenden von Jahren am Polarkreis niedergingen und gefroren.“ Man
       nennt es auch „the purest water on the planet“.
       
       Die Küchenfrauen stellen Bier auf den Tisch: Eisbergbier, abgefüllt in
       blaue Flaschen, ein erfrischendes Lager mit 4,5 Prozent Alkoholgehalt.
       Hergestellt in der Provinzhauptstadt St. John’s, in der Quidi Vidi Brewery,
       der weltweit einzigen Brauerei, die dieses besondere Bier braut. Und was
       kommt noch auf den Tisch? Canadian Iceberg Vodka. Die Destillerie mit
       Hauptsitz in Toronto betreibt, ebenfalls in St. John’s, eine Abfüllanlage.
       Wie begehrt das Eisbergwasser ist, wurde deutlich, als im Februar dieses
       Jahres Diebe 30.000 Liter davon klauten und bei Nacht und Nebel damit
       verschwanden. Der Wert liegt bei 8.000 bis 11.000 Euro.
       
       Der Ozean mit seinen Schätzen bestimmt Wohl und Wehe auf Neufundland, einer
       Insel, wo niemand weiter als 90 Kilometer vom Meer entfernt wohnt. Das
       Geschäft mit dem Eisbergwasser hat sich aus der Krise heraus entwickelt:
       Als infolge der Überfischung die Kabeljaubestände dramatisch zurückgingen,
       erließ die Regierung 1992 das totale Fangverbot. 40.000 Menschen verloren
       ihre Arbeit, vor allem Männer, die nun geschockt und apathisch zu Hause am
       Küchentisch saßen statt im Boot und nicht wussten, was aus ihnen werden
       sollte. Ganz Neufundland hatte nicht nur den Fisch, sondern auch seine
       Identität verloren.
       
       Seit 500 Jahren, seitdem baskische Seeleute an den Küsten der Atlantikinsel
       landeten, brachten die Fänge das Geld. „Cod’s own country“, Land des
       Kabeljaus, hieß es. Das war nun vorbei.
       
       Auch wenn die Organisation Fisheries and Oceans Canada DFO das Moratorium
       zu lockern begann, seit 2017 die Fangsaison verlängert und die
       Fangbeschränkungen lockert, für eine kommerzielle Fischerei reicht es
       längst nicht. Viele Fischer haben Neufundland verlassen, verdienen ihr Geld
       in der Ölindustrie Albertas, arbeiten als Bauarbeiter – oder blieben und
       stiegen in das Tourismusgeschäft ein.
       
       ## Neuseeländischen gegen karibischen Rum
       
       Viele Neufundländer haben mittlerweile zwei Jobs. Wie Wayne Parson: Er
       schippert Urlauber per Boot durch die Bucht von Bonne Bay im
       [4][Nationalpark Gros Morne] und ist Sänger der lokalen Band Anchore
       Aweigh. Die fünf Musiker der Band haben eine kleine Fähre gekauft und
       wechseln sich dort als Guide ab. Wenn genug Leute an Bord sind, spielen sie
       zusammen, Gitarre, Akkordeon, Mundharmonika, Drums. Einer der Songs,
       „Beautiful Bonne Bay“, erzählt von mächtigen Adlern, mystischen Bergen und
       von in kühlem Mondlicht glitzerndem Wasser.
       
       Doch [5][Bonne Bay] ist auch tagsüber fantastisch, es kreisen Seeadler über
       der Bucht, Gischt spritzt am Bug empor, über den felsigen Ufern erheben
       sich Berge – eine Ansammlung massiver orangeroter Felsen, deren Spitzen in
       dicken grauen Wolken stecken. Es sind besondere Berge, Tablelands, die
       zeigen, was normalerweise zehn Kilometer unter der Erde liegt und hier vor
       einigen Hundert Millionen Jahren bei einer Plattenkollision aus der Tiefe
       an die Oberfläche geschoben wurde.
       
       Wayne nimmt Kurs auf die Felsen, zeigt auf die in Vertiefungen geschützten
       Nester der Seeadler und die bizarre Linien im Gestein, die sich zu einem
       Bild fügen, als würde dort ein Klabautermann herumschleichen. Ach ja, und
       da hinten: „An diesem viereckigen Leuchtturm, dem mit dem roten Dach und
       Schornstein, dort hab ich sie zum ersten Mal geküsst.“ Wayne lächelt. „Das
       Woody Point Lighthouse war wie ein verlängertes Wohnzimmer, ein paar Butzen
       weiter stand mein Elternhaus. Na ja, das Mädchen wurde nicht die Frau
       meines Lebens, mit der ich nun sechs Kinder habe, von dem eines in England
       studiert.“
       
       Letzteres betont er, weil er, sooft es geht, nach London fliegt, um seinen
       Sohn zu besuchen, aber auch um, fast genauso wichtig, dort Whisky und Rum
       zu kaufen, der preiswerter ist als in Kanada. Wie viele Neufundländer liebt
       er Scotch und Screech. Screech, der hiesige Klassiker aus jamaikanischem
       Dark Rum, wird in Neufundland abgefüllt. Eine jahrhundertealte Tradition:
       Einst tauschten die Kariben ihren Rum gegen kanadischen Fisch, und
       hierzulande gewöhnte man sich schnell an das hochprozentige Getränk.
       
       Wayne, ein Mann mit Dauerlächeln, liebt es, den Unterhalter zu mimen – das
       Boot ist seine spezielle Bühne, denn es während der Fahrt gibt es für
       niemand ein Entrinnen. Auch nicht vor dem üblichen Spiel: Wie werde ich ein
       Neufundländer? Alle an Bord müssen mitmachen, einen kräftigen Schluck
       Screech trinken, einen Kabeljau aufs Maul küssen (zum Glück einen
       Stofffisch) und schließlich zwei, drei Tanzschritte einüben. Musik ab!
       Überraschender Sound, die Songs erinnern an irische Volksmusik. Iren, aber
       auch Briten und Franzosen hinterließen musikalische Spuren. Die Texte sind
       teils politisch, etwa der Song „The great foggy day“ (Der große Nebeltag).
       Es geht um den Fischereistopp von 1992 und seine dramatischen Folgen für
       die Inselbevölkerung.
       
       ## Jagdschein aus der Lotterie
       
       Waynes richtige Bühne ist jedoch die im Anchor’s Pub in Rocky Harbour, wo
       die Band regelmäßig ihr Heimspiel hat.Zwei Jobs zu haben ist nichts
       Ungewöhnliches, eigentlich sind es sogar drei, wenn man die weit
       verbreitete Jagd dazuzählt. An Letzterer finden immer mehr Frauen Gefallen
       wie Penny Mcisaac, die über die Ureinwohner Kanadas forscht und Touristen
       durch den Gros-Morne-Nationalpark führt: „Ich habe vier Kinder, mein Mann
       ist viel unterwegs, da gehe ich oft auf Jagd, denn wir essen in der Familie
       alle gern Elchfleisch.“ Außerdem sei das ein guter Beitrag zum
       Umweltschutz, denn mit 115.000 Tieren leben zu viele auf der Insel, sie
       grasen alles ab und bringen das Ökosystem durcheinander. Da Jagdlizenzen
       limitiert sind, erzählt die 36-Jährige, kann man sein Glück im Lotto
       versuchen, als Hauptgewinn gibt es Lizenzen. Penny hat ihre jedoch regulär
       erstanden.
       
       Am liebsten ist sie aber im Nationalpark unterwegs, ohne Flinte, aber mit
       Gruppen von Urlaubern, mit denen sie über die Tablelands wandert, jene
       Berge, die bei Waynes Bootsfahrten als Panorama zu sehen sind. Sie ziehen
       sich von Bonne Bay bis Trout River Pond und bilden ein Plateau, das sich
       700 Meter über dem Atlantik erhebt.
       
       „Es gibt nur wenige Orte auf der Erde, wo Teile des Erdmantels großflächig
       an die Erdoberfläche gedrückt wurden. Auslöser war der Zusammenstoß zweier
       Kontinentalplatten“, erläutert die blonde Frau im Safari-Outfit und
       demonstriert mit den Fingern, wie der Druck der beiden Platten das Innere
       der Erde nach oben presst: Der alte Kontinentalblock Laurentia bewegte
       sich vor Millionen Jahren auf Gondwana zu, die Landmasse, aus der sich
       später Afrika, Südamerika und die Antarktis bildeten.“
       
       Die Tablelands sind eine Rarität, weltweit gibt es gerade mal eine Handvoll
       Orte, die einen ähnlichen Blick ins Erdinnere ermöglichen wie hier. Da
       Mantelstein unter anderem Eisen enthält, das an der Luft rostet, sind die
       Felsen der Tablelands orangerot bis gelb und nur spärlich bemoost, während
       der überwiegende Teil des Gros-Morne-Nationalparks vor Grün nur so strotzt.
       Die unwirtlichen Tablelands dienen übrigens auch als Versuchsgelände der
       Nasa, die ihre Astronauten hier trainieren lässt, wie man sich in einem
       dicken Weltraumanzug um Felsbrocken bewegt.
       
       Wenn Neufundland auch nicht mit übermäßig vielen Sonnentagen punkten kann,
       so kann die Insel dennoch Urlauber mit einem Sonnenversprechen locken: der
       Tatsache, dass auf [6][Cape Spear], am östlichsten Zipfel Nordamerikas, die
       Sonne zuerst aufgeht.
       
       22 Dec 2019
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [5] https://www.bontours.ca/tour/bonne-bay-boat-tour/
 (DIR) [6] https://www.pc.gc.ca/en/lhn-nhs/nl/spear
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Birgit Weidt
       
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