# taz.de -- Kolumne "Katastrophen": Auf mentalen Schneeschuhen
       
       > Warum jetzt die perfekte Zeit angebrochen ist, um wenigstens im Geiste in
       > die Polargebiete zu reisen.
       
       Raureif. Ein schönes Wort. Wenn der bald wieder an den Ästen der Stadtbäume
       glitzert und in der Luft qualmige Schwaden von Kohleöfen stehen, ist das
       die richtige Zeit, um an die Polargebiete zu denken. Wie sie so langsam vor
       sich hin schmelzen, während es hier kälter wird. Dazu kommt noch dieser
       ehemals prominente Eisbär, der sich wegen mangelnder Aufmerksamkeit in
       seinen Flegeljahren durch Nichtmeldungen ("Knut doch nicht in den
       Hannoveraner Zoo") in den Vordergrund zu drängen versucht.
       
       Dabei hat die Arktis den schwachen Abglanz einer Berliner Semiprominenz gar
       nicht nötig. Sie hat ihre eigenen haarsträubenden und wundersamen
       Geschichten, die noch einmal hervorgekramt werden müssen, bevor sie mit ihr
       verschwinden werden.
       
       1969 schwang sich, während man andernorts fleißig den Mythos "Sommer der
       Liebe" herbeivögelte, -tanzte und halluzinierend auf Bongotrommeln
       einschlug, ein bärtiger Kauz namens Wally Herbert auf einen Hundeschlitten
       und ließ sich von Alaska über den Nordpol nach Spitzbergen ziehen. Dabei
       machte er sich Gedanken über das Ende der Menschheit und die Zukunft beider
       Pole und kam zu zwei wichtigen Erkenntnissen. Erstens: Um das Jahr 2000
       werden sich die Menschen so stark vermehrt haben, dass sie Kriege um
       Nahrungsmittel führen. Dann müsse man sich überlegen, wie Arktis und
       Antarktis geschmolzen und nutzbar gemacht werden können.
       
       Zweitens: Bald werden sogar Frauen (!) die Polargebiete bereisen, da es
       dort immer annehmlicher wird. "Die Barrieren sind gefallen", notiert
       Herbert besorgt: "Sechs Frauen kamen am 12. November 1969 auf Station
       Südpol an und ergingen sich auf den geheiligten Schneegefilden Arm in Arm
       mit Konteradmiral David Welch."
       
       So viel zur modernen Polarabenteurerei.
       
       Heute sieht das ja noch etwas anders aus. Die Russen zum Beispiel. Die
       schippern auf ihrem Forschungsschiff, der "Akademik Fjodorow", durchs
       arktische Eismeer, tauchen runter auf den Grund, stellen eine Flagge aus
       Titan auf (oder sagt man bei knapp 5.000 Metern Tiefe auch hissen?) und
       beanspruchen mal eben 1,2 Millionen Quadratkilometer Arktis für sich ganz
       alleine. Immerhin: Dass sie ihre Beweisaufnahmen inszenatorisch an das
       Eisberg-Epos "Titanic" anlehnen, beweist Humor.
       
       Dass der in der Arktis überlebensnotwendig ist, wusste auch der
       Polarforscher Carl Weyprecht.
       
       Als Seekommandant der österreichisch-ungarischen Forschungsexpedition auf
       der Suche nach der Nordwestpassage im Jahr 1873 war er über ein Jahr lang
       auf der "Admiral Tegetthoff" im Packeis festgefroren. Die Heiterkeit der
       italienischen Matrosen, so notierte er, die im düsteren Polarwinter auf dem
       mit Fackeln beleuchteten Eis Boccia spielten, war für ihn eine größere
       Nachricht als die der Entdeckung des Kaiser-Franz-Joseph-Landes.
       
       Wussten Sie außerdem, dass der amerikanische Arzt Frederick Cook dem Inuit
       Itukusuk, nachdem der ihn im Jahr 1908 zum geografischen Nordpol begleitet
       hatte, mit drei Schachteln Streichhölzer als Lohn abspeiste?
       
       Oder der Arktisüberflug des italienischen Aeronautikingenieurs Umberto
       Nobile: Der Kapitän stürzte mit seinem Luftschiff ab und ließ sich von den
       herbeigeeilten internationalen Hilfskräften als Erster retten.
       
       Als man nach Monaten zwei von drei weiteren verschollenen Männern fand,
       trug einer die Kleider des Dritten und war "erstaunlich wohlgenährt".
       
       Jetzt also der Winter.
       
       Tristesse und Eislosigkeit in der Bundesrepublik und der Nordwestpassage.
       Die Inuit glaubten übrigens, dass der Schatten eines Wesens seine Seele
       widerspiegelt. Wenn der Polarwinter beginnt, weicht also die Seele aus dem
       Körper, die Inuit verfallen in Melancholie, die Frauen weinen.
       
       Ich rate Ihnen, sich für den Winter ein paar Arktisbücher zu besorgen.
       
       Braten Sie sich eine Robbe.
       
       Frieren Sie fest.
       
       Fragen zu Nobile? kolumne@taz.de . Morgen: Adrienne Woltersdorf ist
       OVERSEAS
       
       22 Oct 2007
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kirsten Reinhardt
       
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