# taz.de -- Aufstände in Nordafrika und Nahost: Ist schon wieder Frühling?
       
       > In Nahost und Nordafrika erheben sich wieder die Menschen gegen
       > Autokraten. Im Westen interessiert man sich dafür nur mäßig.
       
 (IMG) Bild: Anlass zum Protest gibt es genug
       
       Viel war los im Jahr 2019: [1][Syrien-Offensive der Türkei],
       Trump-Impeachment, Arabischer Frühling, Greta in New York … Moment, welcher
       Frühling? Ist es nicht schon Jahre her, dass die Menschen in Tunesien,
       Ägypten und anderen Ländern ihre Langzeit-Herrscher verjagten? Dass wir in
       Deutschland gar nicht genug kriegten von den News vom Tahrirplatz in Kairo,
       von Massendemos in Damaskus, Tripolis und Tunis?
       
       Vor neun Jahren, im Dezember 2010, gaben die TunesierInnen den Startschuss
       [2][für den Arabischen Frühling]. Innerhalb weniger Wochen breiteten sich
       die Aufstände in ganz Nahost und Nordafrika aus. „Das Volk will den Sturz
       des Regimes“, schmetterten die Wütenden ihren autokratischen Herrschern
       entgegen; etliche Staatschefs dankten ab. Mittlerweile ist die Euphorie
       vieler BeobachterInnen der Ernüchterung gewichen.
       
       Doch was sich nun, im Jahr 2019, in der Region ereignet hat, kommt den
       historischen Umbrüchen von damals nahe. Der vielleicht größte Unterschied:
       Unser Interesse scheint verflogen. Vorbei ist es mit der Begeisterung und
       auch der Anteilnahme mit den Demonstrierenden, die heute auf den Plätzen
       Bagdads, Beiruts, Algiers und Khartums dem Tränengas, den Schlägertrupps
       und teils auch brutaler Waffengewalt standhalten.
       
       Als die IrakerInnen vor drei Wochen Regierungschef Ali Abdel Mahdi zum
       Rücktritt zwangen, [3][schrieben sie Geschichte]. Mit einer einzigen
       Ausnahme haben in den zehner Jahren nun in allen arabischen Republiken der
       Region Volksaufstände zum Sturz des Präsidenten oder Regierungschefs
       geführt (während die arabischen Monarchien weitgehend verschont blieben).
       Die Ausnahme bildet Syrien, wo sich das Assad-Regime nur mit Giftgas,
       ausländischen Söldnern und massiver Unterstützung der russischen Luftwaffe
       an der Macht halten konnte.
       
       Mahdis Rücktritt folgte auf den des libanesischen Regierungschefs Saad
       Hariri einen Monat zuvor. Auch im Libanon waren die Menschen [4][seit
       Oktober auf die Straßen geströmt], um ein Ende des politischen Systems samt
       seinen haarsträubenden Auswüchsen von Konfessionalismus und Korruption zu
       erzwingen. Eine Kleinigkeit war es, die den angesammelten Frust binnen
       Stunden in offene Wut und schließlich in einen Aufstand umschlagen ließ:
       die Ankündigung einer Steuer auf WhatsApp-Anrufe, die vor allem die Armen
       im Libanon getroffen hätte.
       
       ## Rücktrittsgesuch aus dem Rollstuhl
       
       An konkreten sozioökonomischen und politischen Missständen entzündete sich
       auch der Protest in Algerien und Sudan. Die sudanesische Protestbewegung,
       die mit steigenden Benzin- und Brotpreisen ihren Anfang nahm, richtete sich
       bald auch gegen das Regime Omar al-Baschirs, der fast 30 Jahre an der
       Staatsspitze gestanden hatte. In Algerien war es die in ihrer Dreistigkeit
       kaum zu übertreffende Ankündigung der Staatsführung, den seit 20 Jahren
       herrschenden Abdelaziz Bouteflika für eine fünfte Amtszeit erneut zur Wahl
       aufzustellen. Als der 82-Jährige dem Druck der Straße im April schließlich
       nachgab, schaffte er es kaum noch, sein Rücktrittsgesuch aus dem Rollstuhl
       heraus zu überreichen.
       
       Heute sind sowohl Baschir als auch Bouteflika Vergangenheit. Vorsichtiger
       Optimismus herrscht im Sudan, wo sich Militär und Opposition auf eine
       Übergangsregierung verständigt haben, bevor dann 2022 gewählt werden soll.
       In Algerien flammte rund um die Wahl Mitte Dezember abermals massiver
       Protest auf, waren doch alle fünf Präsidentschaftskandidaten Kader des
       alten Regimes. Wie hartnäckig die Protestbewegung ist, wird sich in den
       kommenden Wochen zeigen. Jedenfalls steht Wahlsieger Abdelmadjid Tebboune
       bereits jetzt kräftig unter Druck.
       
       So weit die Bilanz 2019: Zwei gestürzte Diktatoren, zwei geschasste
       Regierungschefs, dazu kleinere Proteste auch in Ägypten und Jordanien – und
       doch haben die Entwicklungen im Vergleich zu 2011 für wenig Schlagzeilen
       gesorgt. Kein neuer „Frühling“ wurde ausgerufen, keine neue „Arabellion“.
       Sicherlich hat das auch mit Gewöhnung zu tun. Vor allem aber geht unsere
       Gleichgültigkeit auf drei Faktoren zurück, die 2011 so nicht gegeben waren.
       
       Zunächst haben sich die Umbrüche 2019 in Ländern ereignet, die weit
       entfernt, ja sogar fremd erscheinen. Oder waren Sie schon einmal im Urlaub
       in Algerien? Tauchen am Roten Meer im Sudan? Wie Ihnen geht es auch den
       MultiplikatorInnen in den Medien. Viele JournalistInnen, die sich mit der
       Region befassen, haben in Kairo Arabisch gelernt, haben Tunesien und Syrien
       bereist. Aber Algerien oder Sudan? Fehlanzeige. Und wer interessiert sich
       schon für ein Land, ohne je dort gewesen zu sein? Auch politisch gibt es
       keine engen Verbindungen zum Sudan oder nach Algerien – ganz anders als in
       Frankreich mit seiner Kolonialgeschichte in Nordafrika. Dort bestimmte die
       Lage in Algerien wochenlang die Schlagzeilen.
       
       Zweitens herrscht offenbar Resignation, was arabische Aufstände angeht. Auf
       2011 folgte ab 2013 die Konterrevolution. In Ägypten restaurierte sich das
       Militärregime; Libyen, Jemen und Syrien versanken im Krieg; der IS
       errichtete sein Terrorregime. Enttäuscht wandten sich viele ab. Doch
       vielleicht hat diese Resignation auch eine positive Seite: Die naive
       Euphorie, die viele BeobachterInnen 2011 ergriff, ist einem realistischeren
       Blick gewichen. Sahen wir damals in den Demonstrierenden in Kairo oder
       Damaskus nicht mit Vorliebe jene jungen Leute, die genauso werden wollten
       wie wir im Westen? Der Wandel gestaltete sich letztlich schwieriger als
       erhofft, zumindest erfüllten sich unsere Erwartungen nicht sofort.
       
       Und dann auch noch 2015: Der „Flüchtlingssommer“ führte uns brutal vor
       Augen, dass Veränderung Instabilität mit sich bringt und diese – im
       wahrsten Sinne des Wortes – auch bei uns in Europa ankommt. Nicht nur die
       Rechten begriffen, dass die Revolutionen im arabischem Raum einen
       tiefgreifenden Wandel für die dortigen Gesellschaften darstellen, der mit
       langwierigen politischen Krisen direkt vor Europas Haustür einhergeht.
       Statt Revolutionsbegeisterung machte sich Sehnsucht breit: nach Ruhe und
       Ordnung.
       
       Schließlich, drittens, hat auch der weltpolitische Zeitgeist seine Spuren
       hinterlassen. Unberechenbare Egomanen stellen mittlerweile die Demokratie
       im Westen selbst in Frage; von „Demokratisierung“ der Anderen mag kaum noch
       einer reden. Die Lust, Regime stürzen zu sehen, scheint vergangen. Schwer
       vorstellbar, dass ein deutscher Politiker heute noch ernsthaft für einen
       Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan plädieren würde mit dem Argument, der
       Westen müsse die afghanischen Frauen befreien und Demokratie nach Kabul
       bringen.
       
       ## Trump hält wenig von Demokratieförderung
       
       Und für keinen US-Präsidenten seit 1945 hatte Demokratie eine solch –
       gelinde gesagt – nachgeordnete Stellung wie für Donald Trump. Der
       missionarisch-interventionistische Eifer von George W. Bushs Neocons hatte
       zwar schon mit Obamas Amtsantritt 2009 ein Ende gefunden. Doch rhetorisch
       blieb Obama der US-Tradition entsprechend beim Ideal der weltweiten
       Demokratisierung. Seine Sympathie mit jenen weltweit, die nach Würde und
       Freiheit streben, stand außer Frage. Historisch ist seine Rede in Kairo
       2009: „Man muss die Macht durch Konsens erhalten, nicht durch Zwang“,
       mahnte er die arabischen Autokraten, die damals noch nicht ahnten, was
       ihnen im folgenden Jahrzehnt dräuen würde.
       
       Trump kann mit der Rolle Amerikas als Förderer von Freiheit und Demokratie
       nichts anfangen. Unmissverständlich hat er gezeigt, dass er nicht auf der
       Seite der unzufriedenen Massen steht. „Mein Lieblingsdiktator“ nannte er
       Ägyptens Militärherrscher Abdel Fattah al-Sisi – ausgerechnet jenen Mann,
       der im Kernland des Arabischen Frühlings jeglicher Hoffnung auf Wandel ein
       Ende bereitete und das demokratische Projekt am Nil begrub. Vielleicht ist
       Trump ehrlicher als Bush und Obama, jedenfalls macht er keinen Hehl daraus,
       dass er in einem von Autokraten zusammengehaltenen Nahen Osten die beste
       Option sieht.
       
       Entscheiden aber wird sich die Zukunft der Region letztlich auf den Straßen
       in Algier, Kairo oder Bagdad. Das vergangene Jahrzehnt hat gezeigt, dass es
       unmöglich ist, die Kräfte zurückzuhalten, die auf Wandel in den
       konservativen Gesellschaften und verkrusteten politischen Systemen des
       Nahen Ostens drängen. An denen hat sich bislang kaum etwas geändert. Nur
       vier Prozent der Menschen in der Region leben in Ländern, die im
       Freiheits-Index der US-Organisation Freedom House als „frei“ gelten (Israel
       und Tunesien). Eine überwältigende Mehrheit ist grundlegender Rechte
       beraubt.
       
       Anlass zum Protest gibt es also genug. Ob die Aufstände auf lange Sicht
       eine neue Welle der Demokratisierung darstellen oder sich der
       Autoritarismus unter dem Druck der Straße wandelt, wird sich wohl weder
       nächstes noch übernächstes Jahr abschließend beantworten lassen.
       
       Sicher aber ist: Während die nuller Jahre als „Krieg gegen den Terror“ in
       die Geschichte eingingen, ist in den zehner Jahren im arabischen Raum ein
       Prozess in Gang geraten, der womöglich Jahrzehnte dauern wird und der –
       Ägypten hat es gezeigt – weder einem geradlinigen Verlauf folgt noch stets
       die gewünschten Ergebnisse hervorbringt. Gerade deshalb verdienen die
       Furchtlosen in Nahost und Nordafrika, die ihre Hoffnung auf ein freieres,
       würdigeres Leben nicht aufzugeben bereit sind, unsere Unterstützung – und
       ein wenig Geduld.
       
       22 Dec 2019
       
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