# taz.de -- Proteste in Teheran: Iranische Verlassenheit
       
       > Die Bevölkerung Irans wird durch etwas gehemmt, das eigentlich ihre
       > Stärke sein könnte: ihre Diversität. Die jüngsten Proteste sind kein
       > Grund zu frohlocken.
       
 (IMG) Bild: Ausgebrannte Tankstelle nach Protesten in Teheran am 17. November
       
       Keine Führung, keine Strategie, kaum benennbare Forderungen. [1][Den
       jüngsten Protesten in Iran] mangelte es an allem, tragischerweise auch an
       jeglichem Selbstschutz. 200 Tote, vielleicht mehr. Wofür sind sie
       gestorben? Im Vergleich mit anderen Aufständen, die sich gerade weltweit
       gegen soziale Ungleichheit, Unterdrückung und korrupte Herrschaft richten,
       fallen beim Blick auf Iran zwei große Missverhältnisse auf.
       
       Erstens: Trotz einer viele Millionen umfassenden Basis an radikal
       Unzufriedenen fehlt es an jeglicher Organisiertheit, am Verbündetsein; das
       jüngste Ausmaß an [2][Brandstiftungen] zeugt von dieser Schwäche, die Wut
       findet kein Gefäß. Zweitens: Die starke und gut vernetzte iranische
       Diaspora ist nicht in der Lage, diesem Vakuum abzuhelfen.
       
       Zum Vergleich etwa der Sudan vor dem Sturz des Bashir-Regimes: Internet
       blockiert, exzessive Gewalt des Militärs, Hunderte Tote. Doch die
       Demokratiebewegung bewahrte Zusammenhalt, blieb gewaltfrei, unterstützt von
       Diaspora-Sudanesen, die mit der Realität im Land vertraut sind. Gewiss, die
       Teheraner Herrschaft ist effizienter abgesichert. Aber liegt das allein an
       einzigartiger Unterdrückung? Die Islamische Republik stets als Solitär des
       Bösen zu sehen und jedem Vergleich zu entziehen, blockiert ein besseres
       Verständnis der Lage.
       
       Was die Schwäche der Opposition betrifft, erklärt Repression vieles, aber
       nicht alles. Lehrerinnen, Rentnern, Fabrikarbeitern gelingen immer wieder
       öffentliche Proteste, Lkw-Fahrer haben sogar landesweit erfolgreich
       gestreikt. Doch es fehlt über das Punktuelle hinaus am Verbindenden; aus
       dem großen Reservoir an Unzufriedenheit, Frustration und Hass entsteht
       keine Idee, wie alles besser sein könnte, keine Vorstellung von
       Alternative.
       
       ## Die Gesellschaft hat sich rasant verändert
       
       Dies zu erklären ist nicht leicht. 1978/79 hatte der kleinste gemeinsame
       Nenner, die Ablehnung der Monarchie, für deren Sturz gereicht. Heute wird
       eine doppelt so große und viel besser gebildete Bevölkerung anscheinend
       durch eine Diversität gehemmt, die eigentlich ihre Stärke sein könnte. Die
       Gesellschaft hat sich in den vergangenen 15 Jahren rasant verändert,
       allerdings in disparate Richtungen.
       
       Mehr Weltoffenheit und kulturelle Modernisierung, vor allem in der
       Mittelschicht, zugleich aber auch ein Siegeszug von Konsumerismus und
       neoliberalen Lebensmodellen. Traditionelle Bindungen lösen sich auf,
       Vertrauen untereinander erodiert. Viele Ältere sorgen sich über
       Werteverfall; manche Auslandsiraner, die nach langen Jahren ihre Heimat
       wiedersehen, erschrecken.
       
       Außer der materiellen Verarmung durch Sanktionen und Misswirtschaft gibt
       es, zumal in den ärmeren Schichten, eine soziale und psychische
       Verelendung, ein Konglomerat von Drogenabhängigkeit, Depression,
       Aggression. Im jüngsten Aufruhr brach sich vieles von der Verzweiflung der
       Abgehängten Bahn. Arbeitslosen und Tagelöhnern steht vielleicht nur
       nihilistische Gewalt zur Verfügung.
       
       Dass manche Stimmen der Diaspora diese Art von Aufstand nun idealisieren,
       als handele sich um ein Vorbild an Radikalität und Systemopposition, wirkt
       befremdlich. Die Iraner wollen den Umsturz!, heißt es. Auf solche Fantasien
       aus dem sicheren Ausland passt eine persische Redensart: Dein Atem kommt
       von einem warmen Ort.
       
       ## Syrien im Blick
       
       Ganz ohne Zweifel ist die Sehnsucht nach gravierendem Wandel riesig. Doch
       die Vorstellung, die meisten Iraner hätten nichts zu verlieren als ihre
       Ketten, geht in die Irre. Syrien im Blick fürchten sie mit gutem Grund ein
       blutiges Chaos, den Zerfall des Landes oder seine Zerstückelung von außen
       (Iran besteht fast zur Hälfte aus ethnischen Minderheiten).
       
       Nachdem jüngst sogar Krankenwagen in Brand gesetzt wurden, ist auch die
       Sorge berechtigt, bei Aktionen seien Provokateure mit am Werk: Das können
       rechte Ultras sein, die den internen Machtkampf in der Islamischen Republik
       final anheizen wollen; irrerweise sind sie von ausländisch bezahlten
       Agenten schwer zu unterscheiden.
       
       Das US-Außenministerium zeigte sich nach den Unruhen zufrieden und rief
       Protestierende auf, sich mit den USA zu vernetzen – wohl wissend, dass
       bereits ein Retweet durch das State Department eine Verhaftung in Iran
       auslösen kann.
       
       Auf diesem [3][von Zynismus durchwirkten Feld] wird immer
       unübersichtlicher, wer als Opposition gilt. Vermehrt treten Monarchisten in
       Erscheinung, in Hamburg wehten ihre Fahnen. Auf Twitter meldeten sich gar
       iranische Nazis zu Wort. Und einige deutsche Aktivisten für Menschenrechte
       in Iran rücken nun an die Seite der US-Politik mit der Begründung, die
       EU-Kritik an Iran sei zu lasch.
       
       ## Die moderate Fraktion ist am Ende
       
       Derweil entzieht sich die Islamische Republik jeglichem Einfluss von Westen
       her immer mehr. Zwanzig Monate nach Trumps Bruch des Nuklearvertrags ist
       die moderate Fraktion in Teheran politisch am Ende. Präsident Rohani dürfte
       bei den Parlamentswahlen im Februar seine Mehrheit verlieren; eine
       Rechtsaußen- oder Militärregierung könnte folgen.
       
       Auf der Suche nach strategischen Partnern orientiert sich Teheran vermehrt
       nach Osten, bilanziert eine Studie des Italian Institute for International
       Political Studies, hin zu China, Russland und Indien. Iran asiatisiere
       sich.
       
       Wer die Islamische Republik immer schon für nicht reformierbar hielt, mag
       frohlocken, wenn in Iran alle Hoffnung auf positiven Wandel erlischt.
       Tatsächlich ist das Gefühl von Verlassenheit, das sich nun ausbreitet,
       erschütternd.
       
       Der Historiker Haschem Aghadschari, der früher zum linken Flügel der
       Reformer zählte und ein Todesurteil überlebte, schildert sein Land so: „Wir
       haben heute in Iran eine Gesellschaft, die einem Körper gleicht, dem der
       Kopf fehlt, einem riesengroßen Körper, dessen Glieder allerdings
       auseinandergefallen sind. Es gibt keinen Vertreter dieser Gesellschaft,
       keinen Sprecher, keine Institution, die im Namen dieser Gesellschaft
       sprechen könnte.“
       
       4 Dec 2019
       
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