# taz.de -- Der Hausbesuch: Twitter macht die Welt klein
       
       > Karin S. hat als „Muschelschloss“ mehr als 400.000 Tweets verfasst.
       > Journalist*innen folgen ihr, weil sie schneller ist als jede
       > Nachrichtenagentur.
       
 (IMG) Bild: Sie twittert, um mit der Welt in Kontakt zu bleiben
       
       Twitter [1][ist ihr Kanal]. Karin S., die ihren Nachnamen nicht öffentlich
       machen möchte, weil sie schon einmal gestalkt wurde, ist so etwas wie ein
       Frühwarnsystem für Journalisten. Dank ihres „Bauchgefühls“ weiß sie oft
       früher als andere, wo was los ist.
       
       Draußen: Seit Mai 2018 wohnt Karin S. im niederbayerischen Kurort Bad
       Füssing, der 6.700 Einwohner hat. Ihre Erdgeschosswohnung hat einen kleinen
       Garten mit einem großen Tisch, einer gemütlichen Bank, Swimmingpools für
       Amseln, Meisen und Stieglitze, Schachteln mit Sand für die Spatzen,
       Vogelhäuschen und Windräder.
       
       Drinnen: Ein offener, mit Fotos und Bildern bunt gestalteter Wohnbereich,
       in dem Küche, Arbeits- und Sofabereich miteinander durch Stufen und eine
       offene Theke verbunden sind. Im Radio läuft Bayern 1 (Marillion, Tina
       Turner, Nachrichten). „Schaltzentrale“ nennt Karin S. den großen Esstisch,
       auf dem ihr Laptop steht. Auf dem Zweiplattenherd steht der Espressokocher.
       „Kaffee geht immer“, sagt sie, die jeden Morgen ein Foto von ihrer
       dampfenden Kaffeetasse samt Wetterauskunft in Bad Füssing auf Twitter
       postet.
       
       Wohnungssuche: 59 Jahre wohnte die gebürtige Münchnerin in ihrer
       Heimatstadt, zuletzt neben der alten Paulaner-Brauerei. Vor drei Jahren
       wurde die abgerissen und auf dem Areal wurden 3.600 Wohnungen gebaut. Karin
       S. konnte in ihrer Wohnung keine Fenster mehr öffnen, nicht mehr schlafen,
       bekam Panikanfälle. Zwei Jahre lang suchte sie eine bezahlbare Wohnung.
       Einer ihrer Follower vermittelte ihr einen Kontakt nach Bad Füssing. „So
       bin ich hier gelandet“.
       
       Provinz: „Hier gibt es noch Hausierer“, erzählt sie und dass man, wenn man
       alt und krank sei, in Bad Füssing aufgeschmissen ist. Zu Ärzten in den
       Kurkliniken haben Einwohner keinen Zugang, der nächste Facharzt ist 30
       Kilometer entfernt. Es gibt keine direkte Bahnverbindung nach München.
       Familie und Freunde dort sieht sie nicht mehr. Wegen all dem ist sie jetzt
       wieder auf Wohnungssuche.
       
       Lohnarbeit: Karin S. besuchte die Handelsschule, war Bürokauffrau, hatte
       einen Blumenstand in Schwabing, war Vorstandssekretärin eines Bankhauses,
       hatte eine Werbeagentur und beriet zuletzt Angehörige bei der Münchenstift,
       einer Einrichtung für alte Menschen.
       
       Münchner Kindl: Sie sagt „Schurrrrrrrrke“ und „Rrrrrrrainer“ und
       „Hoglbuachan“ und „Mazna“. Sie fragt immer nach, ob man weiß, was sie meint
       und erklärt dann: „derb, ordinär“ und „durchtrieben“.
       
       Isarnixe: Hieß sie früher auf Twitter. So wie ein alter Münchner Verein für
       Synchronschwimmen. Um keinen Ärger zu kriegen, nannte sie sich um. Jemand
       hatte ihr erzählt, dass es in der Isar Muscheln gebe und dort Nixen in
       Schlössern lebten. „Jetzt ist Muschelschloss ein Markenzeichen. Den Namen
       kann ich nicht mehr ändern.“
       
       Follower: Ilse Aigner, Rainer Calmund, „extra3“, Ai Weiwei, über 700
       Journalisten, und viele andere mehr.
       
       Muschelschloss: „Mostly a step faster than #Reuters“, steht in ihrer
       Twitter-Bio. Und es stimmt. Anzahl der Tweets: 421.800, stetig steigend. Ob
       Naturkatastrophe in Pakistan oder eine Recherche zu Immobilienspekulation.
       „Mei, ich les’ halt viel“, sagt sie auf die Frage, woher sie so schnell
       Informationen und Links hat. Wenn etwas „stinkt“ oder wichtig ist, dann
       spüre sie das: „Bauchgefühl. In meiner Timeline fällt Dummgeschwätz aus.
       Ich wähle sehr genau, wer mir folgen darf, wem ich folge und wen ich
       retweete.“
       
       CSU: Ihr „Erzfeind“. Aber dazu zählt mittlerweile auch die SPD. Sie kennt
       und verfolgt alle Schurken in Bayern.
       
       Twitteraktivistin: „Wenn ich wollte, könnte ich eine Revolution anzetteln.
       Vorausgesetzt, mir geht es an den Tagen gut.“ Ob Seenotrettung,
       Ungerechtigkeiten, Immobilienspekulation, Korruption, Klimakrise – wenn
       Muschelschloss sich hinter ein Thema klemmt, lässt sie nicht mehr los und
       recherchiert. Sie sagt: „Ich liebe Twitter.“ Und dass sie den Menschen
       dankbar ist, die sie seit Jahren auf Twitter begleiten und in schweren
       Zeiten unterstützt haben. „Wäre ich jünger, würde ich eine Partei gründen“.
       Sie kämpft für Gerechtigkeit. Auch außerhalb von Twitter. Für Gustl
       Mollath, der jahrelang zu Unrecht in der Psychiatrie eingesperrt war und
       vom Freistaat Bayern Entschädigung verlangte, startete Muschelschloss eine
       Twitterkampagne für seine Freilassung. „Mich interessieren nur Fakten,
       keine Spekulationen“, sagt sie. Ihre Fragen an Horst Seehofer, der zu
       einer Facebook-Livediskussion zum Fall Mollath eingeladen hatte, seien von
       Seehofers Administratoren gelöscht und ihr Account sei gesperrt worden.
       „Ich war auch am Sturz von Christine Haderthauer beteiligt“, sagt Karin S.
       Die bayerische Ex-Staatsministerin und ehemals rechte Hand Horst Seehofers
       stürzte über die #Modellautoaffäre.
       
       Hass im Internet: Hatespeech retweetet sie nicht. „Rassisten, Hetzer
       gehören bestraft, auch mit Missachtung“.
       
       Facebook: Beleidigungen, Beschimpfungen, Dummheit – „schlimmer als ein
       Kindergarten“, sagt sie.
       
       Journalisten: „Der Journalist wird von mir rundumversorgt“, sagt sie. Sie
       hätte nichts dagegen, wenn diese Journalisten ihr für ihre Dienste ein
       kleinen Obulus zahlen würden. „Hat jemand einen 450-Euro-Job für mich? Im
       Internet?“
       
       Journalismus Der Journalist mache im Grunde dasselbe wie sie: „Er fieselt
       im Internet rum und schreibt Absätze zusammen. Früher gingen Journalisten
       auf Gemeinderatssitzungen oder haben beim Hubermüller die Mülltonnen
       durchsucht, wenn da was war.“
       
       Rettung: Früher habe sie Bücher „gefressen“. Nach ihrer Augen-OP war das
       vorbei. Im Internet konnte sie die Schriftgrößen einstellen und wieder
       lesen. Und sich nützlich machen: „Das, was heute das Hetzerzeug ist, waren
       damals die Foren.“ Dort habe sie sich „engagiert“, Erfahrungen im Kampf mit
       Behörden wegen Geld und Krankheiten geteilt und falsche Informationen
       „korrigiert“.
       
       Helferin: Sie war in der Schule Klassensprecherin, in der Jugendvertretung
       bei der Firma Agfa, kümmerte sich um einen Flüchtling, den sie „mei Bua“
       nennt, sorgt sich um Freunde und Bekannte und ist immer zur Stelle, auch
       für die älteren Nachbarn.
       
       Männer: Heiraten wollte sie nie, tat es dann doch. Nach zehn glücklichen
       Jahren ging der Mann. „Der Schreiner hat eine Tür gemacht, damit man gehen
       kann.“ Dann wurde sie krank.
       
       Geld: Sie konnte nicht mehr arbeiten, beantragte Erwerbsminderungsrente.
       Das Krankengeld lief aus, sie fiel in HartzIV und Grundsicherung. Erst nach
       rechtlichen Schritten wurde die kleine Rente bewilligt, mit der sie heute –
       plus Zusatzrente – auskommen muss.
       
       Krankheit: Sie hat künstliche Linsen, weil ihre eigenen dem Grauen Star zum
       Opfer fielen, eine Folge ihrer Vitiligo, der Weißfleckenkrankheit – „das,
       was der Michael Jackson auch gehabt hat.“ Sie ist extrem sonnenempfindlich
       und bekommt auch in den Augen Sonnenbrand, „Augen sind auch nur Haut“,
       erklärt sie. In München ging sie deswegen nur selten vor die Tür. In ihrem
       Bad Füssinger Garten hat sie jetzt zwei große Sonnenschirme, die kein
       UV-Licht durchlassen, und kann so endlich wieder draußen sein.
       
       Sizilien: In Taormina hatte sie vor 30 Jahren in einem Urlaub den
       Sizilianer Leo kennengelernt, Betreiber einer Strandbar: „stockschwul,
       supernett, sah aus wie Jack Nicholson, viel gelacht“. Nach der Trennung von
       ihrem Mann fliegt sie wieder zu Leo und lebt ein Jahr lang bei dessen
       Freunden Karim und Pancracio, die in ihrer Disco ein Zimmer für
       Muschelschloss einrichten. Ihre Wohnung in München hatte sie an den FC
       Bayern vermietet. Von Karim und Pancracio hat sie italienisch kochen
       gelernt. „Die können jetzt Gulasch und Apfelstrudel und ich Pasta
       Calamari.“ Sie serviert während des Hausbesuchs eine köstliche „Lasagne à
       la Karin“.
       
       Reisen: Singapur, Malaysia, Indien, Kuba – in den „wilden 70ern“ war sie
       allein mit Rucksack unterwegs. „Deutschland kenne ich nicht. Ich bin mal
       durch Hamburg durch, einmal war ich in Wismar.“ In Ceylon könnte sie leben.
       „Die Menschen sind toll. Und die Elefanten und Geckos auch.“ Sie kann aber
       nicht mehr weit reisen. Twitter ist für sie ein guter Ersatz. „Da wird die
       Welt ganz klein. Alles rutscht so zusammen.“
       
       Digital Detox: Wenn es ihr nicht gut geht, macht sie „die Klappe zu“.
       Mittlerweile bleibt der Laptop öfter aus, weil sie im Garten an der
       frischen Luft sein kann. „Ich fange wieder an zu leben.“
       
       3 Sep 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://twitter.com/Muschelschloss
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Doris Akrap
       
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