# taz.de -- Kommentar Zukunft der Türkei: Was kommt nach Erdoğan?
       
       > Die türkische Opposition hat Grund zur Hoffnung, aber sie braucht jetzt
       > eine starke Vision. Eine gewonnene Kommunalwahl wird nicht reichen.
       
 (IMG) Bild: Und nun, Recep Tayyip Erdoğan?
       
       Ist das der Anfang vom Ende? Viele internationale Zeitungen blickten Anfang
       der Woche begeistert auf Istanbul. Dort war am Sonntag in der von der
       Regierung forcierten Wahlwiederholung der Oppositionskandidat Ekrem
       İmamoğlu erneut [1][zum Oberbürgermeister gewählt worden].
       
       Die Bevölkerung hatte trotz aller Repressionen die AKP abgewählt, die seit
       25 Jahren in der Metropole regierte. İmamoğlu gewann sogar in Bezirken, die
       traditionell an die AKP gehen. Das Muster, wonach bei Wahlen ohnehin die
       AKP gewinnt, war durchbrochen. Von einem „historischen Sieg“ war zu lesen,
       von einem Hoffnungsträger, der es mit Erdoğan aufnehmen könne, vom Ende der
       Ära Erdoğan und der [2][Rückkehr der Demokratie] gar.
       
       Tatsächlich ist es İmamoğlu gelungen, die gespaltene Opposition gegen die
       Regierung zu vereinen. Dass die Bürger*innen die Folgen der
       Wirtschaftskrise und die autoritäre Politik satthaben, hatten sie bereits
       bei der Kommunalwahl am 31. März gezeigt. Als die Regierung dann noch die
       Entscheidung von Millionen von Istanbuler Wähler*innen für nichtig erklären
       ließ, reichte es selbst vielen Regierungsanhänger*innen mit der
       Ungerechtigkeit.
       
       Doch so schwierig es ist, vorauszusagen, auf welche Entwicklungen die
       Türkei nun zusteuert; eines ist sicher: Wenn sich in einem zutiefst
       polarisierten Land wie der Türkei die Hoffnungen auf eine oppositionelle
       Projektionsfläche konzentrieren, ist es unausweichlich, dass dieser
       Hoffnungsträger Erwartungen enttäuschen wird – insbesondere wenn er mit
       seinem Programm so unterschiedliche Lager wie kurdisch-linke
       HDP-Anhänger*innen, rechtsextreme MHP-Wähler*innen und enttäuschte
       AKP-Anhänger*innen erreicht hat.
       
       İmamoğlu wird sich in der Realpolitik gegen eine Mehrheit der
       AKP-Koalition im Istanbuler Stadtparlament behaupten müssen, die ihn,
       davon ist auszugehen, blockieren wird, wo es nur geht.
       
       Mit Istanbul, Ankara und Izmir sind nun die drei größten Metropolen des
       Landes in der Hand der Opposition. Doch selbst wenn sich İmamoğlu in der
       Gemeindepolitik bewährt, wird ein seit vergangenem Jahr äußerst
       zentralisiertes Präsidialsystem nicht mit einer gewonnenen Kommunalwahl
       enden. Die nächsten Parlamentswahlen finden im Jahr 2023 statt – wenn nicht
       eine durch Abspaltung des liberalen Flügels der AKP neu gegründete
       konservative Partei oder eine Verschärfung der Wirtschaftskrise vorgezogene
       Neuwahlen erzwingt.
       
       ## Ende der autoritären Regierung
       
       Auch hängt eine Demokratie nicht allein von Wahlen ab, sondern sie muss mit
       einer unabhängigen Justiz und Presse- sowie Meinungsfreiheit einhergehen.
       Das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts, das die Inhaftierung des
       Welt-Korrespondenten Deniz Yücel am Freitagmorgen [3][als rechtswidrig
       einstufte], ist zwar so überraschend wie erfreulich. Doch angesichts der
       mehr als 130 weiterhin in der Türkei inhaftierten Journalist*innen und
       des Gezi-Prozesses, in dem seit Montag 16 bekannte Vertreter*innen der
       Zivilgesellschaft wegen substanzloser Vorwürfe vor Gericht stehen, kann von
       einer unabhängigen Justiz keine Rede sein.
       
       In einem politischen System, in dem wesentliche Kontrollmechanismen
       ausgehoben sind, geht es nicht nur um das Ende der autoritären Regierung,
       sondern auch darum, was danach kommt. Die Opposition braucht eine starke
       Vision für dieses Szenario. Bis dahin ist es ein weiter Weg.
       
       Dennoch: Die Wahl am vergangenen Sonntag hat etwas Entscheidendes in
       Bewegung gesetzt, denn sie hat gezeigt, dass die AKP jedenfalls keine
       Vision hat. Während [4][Erdoğan bei den Wahlen zuvor] die Agenda vorgegeben
       hatte, auf die die Opposition reagierte, zwang nun İmamoğlu ihn dazu, auf
       seine Politik der Versöhnung zu reagieren.
       
       Mit dem Wahlsieg hat die Opposition Handlungsspielraum gewonnen. Das
       bedeutet noch nicht das Ende der AKP-Regierung. Aber den Beginn einer
       Übergangsphase, in der die Vorbereitungen auf die Zeit nach Erdoğan
       beginnen können.
       
       29 Jun 2019
       
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