# taz.de -- Kommentar Türkei: Eisiger Frühling
       
       > Präsident Erdoğan erfuhr bei den türkischen Kommunalwahlen eine bittere
       > Niederlage. Den Erfolg der Opposition wird er sabotieren.
       
 (IMG) Bild: Wurde schon mal mehr geliebt: Präsident Erdoğan nach den Kommunalwahlen
       
       Recep Tayyip [1][Erdoğan wuchs in den rauen Gassen Kaşımpaşas] auf, einem
       Istanbuler Arbeiterviertel, in dem das Recht des Stärkeren galt. Wer hier
       eine Niederlage erfuhr, schlug zurück – oder ging unter. Erdoğan ließ sich
       nie unterkriegen, nicht als Kind aus ärmlichen Verhältnissen und auch nicht
       als aufstrebender Politiker mit religiöser Agenda, der Ende der 90er-Jahre
       von einer laizistisch geprägten Justiz zu zehn Monaten Haft verurteilt
       wurde.
       
       Nichts spricht dafür, dass der türkische Präsident auf seine Schlappe bei
       den Kommunalwahlen mit versöhnlichen Gesten reagiert, schon gar nicht mit
       Zugeständnissen an die Opposition. Seine politischen Gegner müssen sich vor
       allem auf eines gefasst machen: Der Präsident wird alles daransetzen, ihren
       Erfolg zu zertrümmern. Der Türkei droht weiterer Raubbau an Demokratie und
       Rechtsstaatlichkeit.
       
       Dass Erdoğan selbst vor radikalen Gegenangriffen nicht zurückschreckt,
       dokumentiert ein Ereignis besonders deutlich: die [2][Parlamentswahl vom
       Juni 2015]. Der prokurdischen HDP gelang es mit charismatischen Politikern
       und einem progressiven Programm, Wähler weit über die Kernklientel hinaus
       zu begeistern. Die Partei schaffte den Sprung ins Parlament und kostete
       Erdoğans Partei AKP die absolute Mehrheit. Der Junge aus Kaşımpaşa, der nun
       der mächtigste Mann des Landes war, ignorierte das Bedürfnis nach einer
       moderaten Vertretung der Kurden. Stattdessen beendete er den
       Friedensprozess mit der PKK, und er unterstellte Vertretern der HDP, mit
       dem gewaltbereiten Arm der kurdischen Bewegung zu paktieren. Im Südosten
       des Landes entbrannten Kämpfe, die an die blutigsten Tage des
       Kurdenkonflikts erinnerten. Ausgangssperren, Belagerung, Panzer in den
       Innenstädten, Dutzende Tote. Erdoğan ging über Leichen, um seine Macht zu
       sichern. Vertreter der HDP ließ er als Terroristen brandmarken und
       einsperren. Bei den Neuwahlen im November 2015 holte er sich die absolute
       Mehrheit zurück.
       
       Warum sollte er da ausgerechnet jetzt, bei Kommunalwahlen, klein beigeben?
       Die Frage, ob Erdoğan sich rächt, ist müßig. Die Frage ist: Wie? Auf den
       Verlust Istanbuls, wo Erdoğans politische Karriere begann, reagierte seine
       AKP bereits mit einem Einspruch bei der Hohen Wahlkommission – wegen
       angeblicher Unregelmäßigkeiten und Fälschungen. Natürlich mit dem Segen des
       Präsidenten. Erdoğan hat Kritiker in seiner Partei längst ins politische
       Niemandsland verbannt.
       
       Auch in Ankara hat die AKP Einspruch eingelegt. Gegen den Wahlsieger Mansur
       Yavaş begann zudem schon während des Wahlkampfes eine Schmutzkampagne. Als
       sich die Niederlage der AKP in der Hauptstadt abzeichnete, wurde er wegen
       undurchsichtiger Vorwürfe rund um gefälschte Schuldscheine angeklagt.
       Erdogan ließ Yavaş wissen: „Diese Dinge werden nach der Wahl die Nation
       beschäftigen, und (…) er wird einen hohen Preis dafür zahlen (…)“ Eine
       Amtsenthebung des frisch gewählten Bürgermeisters in der Hauptstadt auf
       Grundlage offensichtlich fingierter Vorwürfe? In Erdoğans Türkei ist nichts
       mehr unvorstellbar. Und so kommt bereits die Drohung dem Schwert des
       Damokles gleich. Es schwebt über Yavaş’ Legislatur – nur gehalten von einer
       Justiz, die sich schon zu oft dem Willen des Präsidenten unterworfen hat.
       
       Für [3][Bürgermeister der HDP] im Südosten sind Amtsenthebungen seit Jahren
       eine Realität. Nach dem Wiederaufflammen des Kurdenkonflikts setzte Ankara
       fast alle der rund 100 HDP-Bürgermeister ab. Ihren Platz übernahmen
       Zwangsverwalter. Sie sollten angebliche Geldflüsse aus den Kommunen an die
       PKK unterbinden. Diesen brachialen Eingriff in die Demokratie rechtfertigte
       Erdoğan damals mit dem herrschenden Ausnahmezustand.
       
       ## Erdoğan schert sich nicht um Rechtfertigungen
       
       Mittlerweile schert Erdoğan sich aber nicht einmal mehr um
       Rechtfertigungen. Der Ausnahmezustand ist aufgehoben, der Autokrat im
       Präsidentenpalast wiederholte im Wahlkampf trotzdem gebetsmühlenartig:
       „Sollte die Unterstützung für Terroristen weitergehen, werden wir wieder
       Zwangsverwalter einsetzen.“ Wenn …, dann? Es wäre nicht das erste Mal, dass
       Erdoğan einen Anlass fingiert, wenn es ihm gerade passt.
       
       Eine Instanz, die ihn davon abhalten würde, gibt es nicht mehr. Denn es
       fehlt eben nicht nur an einer Justiz, die den Präsidenten infrage stellt.
       Selbst unabhängige Experten sind sich angesichts des Präsidialsystems, das
       Erdoğan im vergangenen Jahr eingeführt hat, nicht immer ganz sicher, welche
       bürokratischen Tricks der Staatschef in der „neuen Türkei“ rechtmäßig
       einsetzen darf, um die Opposition zu behindern. Einige Paragraphen lassen
       Interpretationsspielraum. Erdoğan beansprucht die Deutungshoheit
       unterdessen hemmungslos für sich. Recht und Unrecht – auch diese Kategorien
       verschwimmen.
       
       Ein Mittel, mit dem Erdoğan seinen Machtverlust in den Kommunen bremsen
       wird, liegt besonders nahe: Geld. Gemeinden in Oppositionshand müssen damit
       rechnen, dass Ankara sie finanziell abstraft. Die türkische Republik war
       immer ein zentralistisch organisierter Staat, Erdoğan verschärfte das. Ein
       Großteil der Steuereinnahmen etwa fließt zunächst nach Ankara und erst dann
       in die Kommunen. Müssen sich Gemeinden Geld leihen – was oft der Fall ist –
       sind sie ebenfalls auf Ankara angewiesen. Das Innenministerium muss
       größeren Krediten zustimmen. Durch diese Strukturen kann Erdoğan
       Bürgermeistern seiner AKP prestigeträchtige Infrastrukturprojekte
       ermöglichen – und Bürgermeistern der Opposition verwehren. Ausgenommen sind
       davon wohl nur die Metropolen. Sie sind für derartige Experimente von zu
       großer wirtschaftlicher Bedeutung für das gesamte Land.
       
       Durch die Erfolge bei den Kommunalwahlen keimt bei der Opposition endlich
       wieder die Hoffnung auf einen politischen Frühling. Erdoğan jedoch dürfte
       sicherstellen: Dieser Frühling wird eisig.
       
       15 Apr 2019
       
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