# taz.de -- Die Wahrheit: Wider die Saftschlucker!
       
       > Er ist einer der letzten Orte der offenen Rede und des freien Trunkes.
       > Und er ist von allen Seiten bedroht. Eine Verteidigung des Stammtischs.
       
       Es gibt Menschen, denen, weil sie viel reden müssen, keine Zeit zum Denken
       bleibt. Nicht zuletzt Politiker sind von diesem Übel bedroht. Ihre Worte
       haben keinerlei Gehalt, sie sind austauschbar. In den meisten öffentlichen
       Diskussionen sind die Worte eigentlich verzichtbar, die Protagonisten bei
       Sandra Maischberger oder Maybrit Illner könnten einander auch mit
       Schaumstoffknüppeln verhauen.
       
       Ab und zu gelingt es einem Politiker oder einer Politikerin doch einmal,
       durch einen pointierten Spruch das dösende Publikum aufzuwecken. Dann wird
       ihm oder ihr von Konkurrenten der Vorwurf gemacht, die Äußerung bewege sich
       auf „Stammtischniveau“. Dabei müssten die Politiker, die so klagen, selbst
       zumeist ziemlich lange klettern, bis sie beim Stammtischniveau ankämen. Vor
       allem aber stellt sich die Frage: Was sind das eigentlich für trübe Tassen,
       die glauben, es wäre ehrenrührig, mit einem Stammtisch in Verbindung
       gebracht zu werden? Die offenbar glauben, man könnte jemanden beleidigen,
       indem man ihm vorwirft, er halte sich regelmäßig mit Freunden in einer
       Kneipe auf?
       
       Du redest, als hättest du Bier getrunken! Welch ein Donnerwort der
       Verdammnis! Wissen diese Saftschlucker nicht, dass schon Sokrates seine
       klügsten Worte im Rausch aussprach, während eines Symposions, im
       griechischen Wortsinne also einer gemeinschaftlichen Trinkerei, die auch
       als bedeutendster Stammtisch in der Geschichte des Geistes bezeichnen
       werden könnte?
       
       Die Kritiker des Stammtischs haben ein anderes Bild dieser Institution vor
       Augen: An einem runden Eichenholztisch, in dessen Mitte ein mit der Figur
       eines röhrenden Hirsches verzierter Aschenbecher steht, sitzen
       ausschließlich ältere Herren in bayerischer Tracht, die nach dem
       sonntäglichen Gottesdienst gemeinsam über die Ausländer schimpfen, während
       die Gattin zu Hause den Wildschweinbraten zubereitet.
       
       Legt man den moralischen Maßstab der Kritiker des Stammtischs an, dann
       bewegt sich dieses Klischeebild auch auf Stammtischniveau. Allerdings auf
       dem Niveau eines Stammtischs in einem Freiburger Eine-Welt-Café, wo sich
       jeden Sonntagmorgen die „Grünwählenden“ zum Familienbrunch („14,50 Euro pro
       Person, ein Glas Orangensaft ist inbegriffen. Für Kinder 1 Euro pro
       Lebensjahr“) treffen, um sich gegenseitig düstere Gruselgeschichten von den
       Regionen Dunkeldeutschlands zu erzählen, in denen der Populismus noch nicht
       universell geächtet ist.
       
       ## Schmerzlich vermisster Ort des Polterns
       
       Unsere Zeit leidet nicht darunter, dass es zu viele Stammtische, sondern
       darunter, dass es immer weniger Stammtische gibt. Denn der Stammtisch war
       eben jener Ort der gesellschaftlichen Begegnung, der heute schmerzlich
       vermisst wird. Hier kamen Menschen zusammen, die durchaus nicht immer einer
       Meinung waren, es aber dennoch miteinander aushielten. Hier wurde über die
       drängenden Probleme der Zeit und die großen Fragen des Daseins gestritten,
       hier wurde auch mal gepoltert und geflucht.
       
       Am Ende stand selten allgemeines Einverständnis, immer aber größeres
       Verständnis auf allen Seiten. Niemand wurde hier wegen unüberlegter Worte
       des Raumes verwiesen. Solches geschah nur, wenn einer nicht bloß dumme
       Gedanken, sondern auch seinen Mageninhalt oder seine Fäuste nicht mehr bei
       sich behalten konnte.
       
       Aber hier verkniff sich auch niemand eine offene Widerrede, wenn jemand
       etwas Dummes von sich gab. Der Stammtisch ermöglichte also eben jenen
       freundschaftlichen Streit, den man heute mühevoll durch öffentliche
       Therapiesitzungen in Kirchenhäusern und Kulturzentren nachzustellen
       versucht. Aber wenn je Menschen vom Besseren überzeugt wurden, dann nicht
       durch öffentliche Schaukämpfe, sondern in persönlichen Gesprächen. Der
       Stammtisch bot die Vertraulichkeit, die dazu nötig ist, und war doch
       zugleich grundsätzlich offen für neu Hinzukommende.
       
       Der Stammtisch als Ort der Vermittlung, als Universalmedium, wäre
       allerdings nicht möglich gewesen ohne den Treibstoff Alkohol. Er öffnete
       die Herzen und die Münder. Die Freude am Biergenuss war das einigende Band,
       das die unterschiedlichsten Naturen dazu brachte, gemeinsam an einem Tisch
       Platz zu nehmen. Es ist kein Zufall, dass in unseren Tagen die Nachrichten
       über den Niedergang der Demokratie mit alarmierenden Schlagzeilen
       zusammentreffen, die vom Rückgang des Bierkonsums in Deutschland künden.
       Dass gerade die Jugend den Smoothie immer öfter der Halben vorzieht, muss
       alle Vernunftgetriebenen erschüttern. Die Eckkneipen sterben inzwischen
       schneller als die Wildbienen und die Feldlerchen. Das sind keine guten
       Aussichten.
       
       Wie soll aber die Gesellschaft überleben, wenn die Leute auf Gesellschaft
       lieber verzichten? Wo soll die Gastfreundschaft herkommen, wenn man sich
       nicht einmal mehr ins Gasthaus wagt? Wie soll die Wirtschaft ohne
       Wirtschaften florieren? Das sind die Fragen, die wir uns stellen müssen.
       Toleranz ist ein Gedanke, der fruchtlos bleibt, wenn man nicht lernt, den
       Anderen auch wirklich zu ertragen.
       
       ## Allein im Netz auf Verschwörungssuche
       
       Die eine verbringt ihre Zeit vornehmlich mit ihrem Netflix-Abonnement,
       verlässt sie doch einmal das Reihenhaus, dann unternimmt sie alles, um
       ausschließlich Gleichgesinnten zu begegnen. Der andere stöbert den ganzen
       Tag im weltweiten Netz nach Verschwörungen, von denen er bei der nächsten
       „Merkel muss weg!“-Demonstration erzählen kann, dem einzigen Ort auf der
       Erde, wo er noch Freunde hat. Eine so getrennte Gesellschaft schützt die
       Schlauen vielleicht vor der Infektion mit Dummheit, bewahrt aber auch die
       Verdummten sicher vor jeder Aufklärung.
       
       Es ist das schöne Land der Bayern, das gern zur Verkörperung des Gestrigen
       erklärt wird, das überall zu überwinden sei – ein Stammtisch von der Größe
       eines Staates. Doch wer einen bayerischen Biergarten, ein bayerisches
       Wirtshaus betritt, staunt oft über unerwartete Diversität. Da sieht man Alt
       und Jung, Arbeiter und Akademikerin, einheimisches und zugereistes Volk
       friedlich beisammen reden und trinken.
       
       Begibt man sich ins Gespräch, lernt man nicht selten Anarchisten mit
       Heimatsinn kennen und Konservative, die über das Kapital schimpfen. Von der
       Bühne herunter schallt antifaschistische Blasmusik oder Dada in Mundart. An
       vielen anderen Orten, etwa in Sachsen, wäre nichts dergleichen auch nur
       vorstellbar.
       
       Als Wahlpreuße spreche ich das Wort nicht ohne Widerstreben aus, aber
       vielleicht können wir von den Bayern lernen. Die Parole laute: Schafft
       zwei, drei, viele Stammtische! Keinen Menschen schließe man aus, zur Not
       dulde man sogar alkoholfreies Bier.
       
       16 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Bittner
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Rausch
 (DIR) Stammtisch
 (DIR) Silbermond
 (DIR) Jugend
 (DIR) Schwerpunkt AfD
 (DIR) Populismus
 (DIR) Willkommenskultur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Wahrheit: Heimat gegen rechts
       
       „Mein Osten“: Das neue Lied der ostdeutschen Band Silbermond und der
       Konsens der befriedeten Volksgemeinschaft.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Aufstand der Anständigen
       
       Auch wertorientierte junge Leute wollen protestieren. In München geht eine
       Jugendbewegung in Rüschen „für Disziplin“ auf die Straße.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Kartoffeldruck mit Quark
       
       Ganz rechts außen ist schon wieder eine Postille für den deutschen
       Volltrottel aus der Taufe gehoben worden. Sie heißt „Deutschland Kurier“.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Der Kandidat mit dem Kot
       
       Bei der Oberbürgermeisterwahl in Wernigerode gilt der Pavian Benito als
       Favorit. Das Volk ist begeistert von seiner modernen Erscheinung.
       
 (DIR) Die Wahrheit: Alter Sack mit vollen Eimern
       
       Beinahe überall in Deutschland findet sich das geheimnisvolle Kunstwerk
       „Der weiße Fleck“. Jetzt offenbart sich der Künstler.