# taz.de -- Berliner Opernpremieren: Die Wahrheit singen
       
       > Großer Gesang: „La Sonnambula“ von Vincenzo Bellini an der Deutschen Oper
       > und „La Bohème“ von Giacomo Puccini an der Komischen Oper.
       
 (IMG) Bild: Amina (Venera Gimadieva) wartet im Gasthaus auf ihren Verlobten
       
       Die Jungs haben Spaß, viel Talent und kein Geld. Sie lachen über die
       Gesellschaft der Braven und Strebsamen. Sie haben Ideen, auch am Heiligen
       Abend, wenn der Pfandleiher geschlossen hat. Einer hat trotzdem Wein
       aufgetrieben. So lässt sich in der kältesten Mansarde lustig feiern. Einer
       schreibt ständig irgendetwas auf, weil er ein Dichter ist, ein anderer
       fühlt sich zum Malen berufen und hat deshalb das modernste Gerät
       angeschafft, das es damals gab: eine Plattenkamera, die mit der
       revolutionären Methode des Bühnenmalers Daguerre völlig neue Bilder der
       Stadt und der Gesichter zeigt.
       
       Diese Bilder gibt es wirklich. Der Bühnenbilder Rufus Didwiszus nutzt ihren
       surrealen Reiz, die Szene dieser Intellektuellen und Künstler im Paris in
       der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Bühne zu holen. Daguerrografien von
       Straßen und Panoramen bilden den Hintergrund, der Boden ist mit ebenfalls
       vergrößerten, aber noch nicht belichteten Fotoplatten ausgelegt.
       Verschlissene Möbel und ein Kanonenofen mit artistisch verwinkeltem
       Kaminrohr markieren einen armselig engen Innenraum, der nur durch eine
       aufklappbare Luke im Boden betreten werden kann.
       
       Durch dieses Loch müssen alle hinaufkriechen in diese Kammer jugendlichen
       Leichtsinns, auch die todkranke Mimi, die Nachbarin, die ein Streichholz
       braucht für ihre Kerze. Der Rest ist bekannt genug, was hier gespielt wird,
       ist die Oper „La Bohème“ von Giacomo Puccini. Wir kennen sie als Inbegriff
       der großen Oper schlechthin, nämlich der größtmöglichen Leidenschaft,
       vorgetragen von Singstimmen, die alle Sinne betäuben.
       
       Das ist sie auch bei Barrie Kosky, aber sie ist ein Schock. Kein Pathos,
       keine Tragik, sondern Alltag, ein wenig verrückt zwar und ein krachendes
       Volksfest auf der Straße, aber dennoch nichts als Alltag. Jugendliche
       probieren alles Mögliche aus, natürlich auch die Liebe. Das meiste geht
       schief, wie immer im Leben, zu dem der Tod gehört. Das ist gar nicht
       tragisch, nur wahr und kann zu wirklichen Tränen rühren, wenn die sterbende
       Mimi am Ende den Fotografen bittet, ein letztes Bild aufzunehmen.
       
       ## Mir der Tiefenschärfe der Plattenkamera vergleichbar
       
       Große Stimmen von Stars sind dafür nicht nötig, denn Kosky hat nur getan,
       was seine Theaterkunst immer auszeichnet. Er hat Puccini wörtlich genommen
       und mit dem Kapellmeister Jordan de Souza am Pult ist jetzt ein Werk zu
       hören, das all den Erwartungen widerspricht, die sich in seinen gar nicht
       mehr zählbaren Aufführungen auf sämtlichen Bühnen der Welt bis heute
       angesammelt haben. Kurze Szenen von Instrumenten und Stimmen bringen,
       durchaus der Tiefenschärfe einer Plattenkamera vergleichbar, genau
       beobachtete Gefühle zu Ausdruck, die alle nicht groß und überwältigend
       sind, aber wahr.
       
       Ensemblemitglieder wie Nadja Mchantaf als Mimi, Günter Papendell als
       Marcello und der Gasttenor Jonathan Tetelman als RodDas Hauptwerk des
       italienischen Belcanto in einem völlig neuen Lichtolfo reichen dafür völlig
       aus. Sie singen mühelos und menschlich anrührend auch in den schwierigsten
       Lagen, die ihnen Puccini zumutet, aber nicht weil es ihm auf den Glanz
       ankam, sondern weil der Alltag manchmal schmerzt.
       
       Genau darüber haben sich übrigens die Rezensenten der Uraufführung von 1896
       alle beschwert. Am Samstag war an der Deutschen Oper Berlin auch zu sehen,
       was Wahrheit in der Oper sein kann, ausgerechnet der Kunstgattung also, die
       am wenigsten dafür infrage kommt. Kein Mensch singt, wenn es um die
       Wahrheit geht, aber genau das tut jedes einzelne Mitglied des Chores der
       Deutschen Oper, individuell als persönlicher Charakter auftretend in den
       alltäglichen Kleidern von Leuten, die in einem Bergdorf wohnen.
       
       Vor Sieben Jahren haben der Regisseur Jossi Wieler, der Dramaturg Sergio
       Morabita und die Bühnenbildnerin Ann Viebrock dieses Wunderwerk einer Oper
       auf die Bühne in Stuttgart gebracht. Es beruht ebenfalls auf einer sehr
       genauen, neuen Lektüre von Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“, die das
       Hauptwerk des italienischen Belcanto in einem völlig neuen Licht zeigt.
       
       ## Unglaubwürdige Handlung
       
       Das Stück wird heute eher selten aufgeführt, weil seine Handlung wenig
       glaubwürdig zu sein scheint. Die Braut eines reichen Bauern wird am Tag vor
       der Hochzeit in Bett des Grafen entdeckt, der in sein Schloss zurück kehren
       will. Sie sei schlafwandelnd im Traum dahin geraten, beteuert sie unentwegt
       in wunderbaren Melodiebögen, aber es fällt dem ganzen Dorf schwer, das zu
       glauben, vom Bräutigam schon gar nicht zu reden.
       
       Daraus entsteht eine Art von sentimentaler, etwas biedermeierlicher
       Komödie, die am Ende gut ausgeht, weil man es menschlicherweise mit der
       Wahrheit nicht allzu genau nehmen sollte. Wie in Kleists „Marquise von O.“
       bleibt sie offen, unerklärbar, aber eben dadurch einziges Thema des
       Theaters, nicht der Überschwang der Gefühle, den Bellini ohnehin nur
       moderierend wohklingend und freundlich zum Ausdruck bringen möchte.
       
       Überquellend von Spielfreude und überragend gesungen endete die Premiere im
       rauschenden Applaus des Saals. Sehr verdient, wenngleich man der Intendanz
       nur dafür danken kann, dass sie dieses überall hochgelobte Meisterwerk der
       Opernregie auch für sich entdeckt, und mit aller Sorgfalt für ihren eigenen
       Spielplan neu produziert hat Ein Lehrstück für die wahre Oper ist es
       allemal.
       
       1 Feb 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Niklaus Hablützel
       
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