# taz.de -- Die Wahrheit: Der Nussknacker mit dem Beil
       
       > In den geistigen Kampf zwischen einem Horrorschriftsteller und seinem
       > Alter Ego greift eine blutrünstige Romanfigur brutal ein.
       
 (IMG) Bild: Ganz harmlos können hölzerne Nussknacker aussehen
       
       Der Nussknacker erwachte mit einem irritierten Knarren. Etwas hatte ihn aus
       seinem hölzernen Schlaf gerissen, aber er wusste nicht, was es gewesen war.
       Er ließ sämtliche steife Gelenke knacken und versuchte, sich zu
       orientieren. Offensichtlich stand er aufrecht. Seit Jahrzehnten schon hatte
       er nicht mehr aufrecht gestanden, sondern immer nur in seiner Schachtel
       gelegen. Versunken in süße Träume von Wal- und Haselnüssen, schwelgend in
       Erinnerungen an Marzipan und Kerzen, liebevoll eingepackt in duftendes
       Seidenpapier.
       
       Es musste einen Grund haben, warum er plötzlich erwacht war und hier
       herumstand. Den Nussknacker packte das blanke Entsetzen: All die
       Honigkuchenpferde, Rauschgoldengel, die niedlichen Plüschpferde und
       Spielzeugtrompeten in den Regalen um ihn herum, die silberglänzenden
       Duftkerzen, der Teddy, der ihn anlächelte … glaskugelklar! Er war im
       „Dumme-Ideen-für-Horrorfiguren-Regal“ des Horrorschriftstellers Helmut
       Rellergerd gelandet. Rellergerd beziehungsweise sein Alter Ego Jason Dark
       waren die Erfinder des Geisterjägers John Sinclair, der seit ewigen Zeiten
       als Hauptfigur durch gruselige Heftromane wanderte.
       
       Aber warum? Der Nussknacker konnte sich zunächst keinen Reim auf diese
       bizarre Angelegenheit machen. Dann verstand er schließlich, was in der
       Schizo-Ecke des Schriftstellerhirns geschah: Jason Dark hatte womöglich
       Wind davon bekommen, dass Rellergerd keine John-Sinclair-Groschenhefte mehr
       schreiben wollte, sondern vorhatte, sich auf das anspruchsvolle Sujet der
       Selbstfindungsratgeber zu verlegen. Jason Dark fürchtete jetzt
       wahrscheinlich um seine Existenz und musste handeln, sich zur Wehr setzen.
       Weil aber alle Zombies, Vampire, wandelnden Köpfe, untote Richter und
       sonstiges Horrorgesocks aus Rellergerds Feder schon lange einen Betriebsrat
       gegründet hatten und deshalb nicht mehr arbeiteten, musste Jason Dark die
       peinlichen Ideen aus dem „Dumm-Regal“ aktivieren, um gegen Rellergerd zu
       Felde zu ziehen.
       
       ## Echte Gruselgestalt
       
       Beinahe fühlte sich der Nussknacker nun ein wenig gekränkt. Er war doch ein
       stattlicher Knacker mit festen Kiefern, der durchaus auch zu einer echten
       Gruselgestalt in einem John-Sinclair-Heft getaugt hätte. Er sah sich
       bereits als General und Anführer einer Armee von grinsenden Plüschtieren
       und duftenden Teigfiguren, die im Gehirn ihres Schöpfers Rellergerd einen
       peinlichen Aufstand lostraten, während Jason Dark sich im sicheren Winkel
       der Schizo-Ecke verborgen hielt.
       
       Der Nussknacker sollte also schnöde benutzt werden und sich gegen seinen
       Schöpfer wenden. Das war nichts für einen soliden Kerl wie ihn. Aber
       gerade, als der Nussknacker sich beleidigt wieder in seine Schachtel legen
       wollte, geschah etwas Merkwürdiges: Er fühlte, dass er zornig wurde, zornig
       auf Helmut Rellergerd. Einen solchen Furor hatte er noch nie verspürt, und
       er bekam Lust, diese unbezähmbare Wut zu teilen und auf andere zu
       übertragen.
       
       Schon lächelte der Teddy im „Dumm-Regal“ nicht mehr freundlich, er hatte
       sich stattdessen ein teuflisches Grinsen zugelegt. Der Rauschgoldengel
       hatte sein güldenes Seidengewand gegen eine grobe schwarze Kutte getauscht,
       und statt einer zarten Harfe schwang er eine rostige Sense. Die Plüsch- und
       Honigkuchenpferde verloren in Sekundenschnelle Fell und Teig und
       verwandelten sich zusehends in erschreckende Knochengestelle, die mit
       klappernden Kiefern kollerten. Sogar die Duftkerze verströmte statt
       Bratapfelgeruch einen Gestank von Tod und Verwesung, der seinesgleichen
       suchte.
       
       ## Monströses Gelächter
       
       Der Nussknacker verfiel in ein monströses Gelächter, das so entsetzlich
       durch die Hallen von Rellergerds Gehirn hallte, dass selbst Jason Dark in
       der Schizo-Ecke eine Gänsehaut bekam. Nun war die Dummtruppe nicht mehr zu
       halten: Die Spielzeugtrompete schmetterte unentwegt in den schrägsten Tönen
       die schrill verzerrte Melodie der kleinen Nachtmusik, die Skelettpferde
       riefen immerzu: „Wir sind auch gruselig! Wir sind auch gruselig!“ Und der
       dämonische Teddy tat sein Bestes, um böse auszusehen.
       
       Doch das alles reichte dem Nussknacker nicht. Er brauchte noch eine
       unlogische Idee, um die Sache perfekt zu machen. „Man kann doch Rellergerd
       und Jason Dark nicht ohne eine unlogische Idee aus ihrem hirnigen
       Höllenloch hervorlocken!“, predigte der Nussknacker seiner düsteren
       Gemeinde.
       
       Eine kleine Marzipankartoffel, die von allen bisher unbemerkt geblieben
       war, räusperte sich und erhob ihre piepsende Stimme: „Wir könnten doch ein
       Schattenmonster mit einem blutigen Beil, an dem noch Haare kleben …“ Der
       Nussknacker hatte genug gehört.
       
       Eine halbe Stunde später geschah es: Helmut Rellergerd gähnte, stand auf,
       kochte sich einen Kaffee und schrieb in seinen Computer: „Jason Dark – John
       Sinclair und der Nussknacker mit dem blutigen Beil“.
       
       28 Dec 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Corinna Stegemann
       
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