# taz.de -- Debatte Grüne nach der Hessenwahl: Auf dem Weg zur Großpartei
       
       > Nach ihren Triumphen in Bayern und Hessen können die Grünen auf Dauer
       > erfolgreich sein – wenn sie mutiger als bisher die offene Gesellschaft
       > vertreten.
       
 (IMG) Bild: Bei Frauen und unter 35-Jährigen eine Mehrheit: die Grünen
       
       Nach [1][den jüngsten Erfolgen] haben die Grünen eine große Chance und viel
       Verantwortung zu tragen. Es gibt drei Voraussetzungen, unter denen sie auch
       dauerhaft Erfolg haben und die Bundesrepublik vor dem Schicksal anderer
       liberaler Demokratien bewahren können, in denen autoritäre Nationalisten
       auf dem Vormarsch oder schon an der Regierung sind:
       
       Sie gewinnen, wenn ihre Wahlerfolge nicht nur per Umverteilung im linken
       Lager auf dem Feld der ehedem starken SPD zustande kommen. Davon sind sie
       noch ein Stück entfernt, denn die Reichweite der Brandt- und auch
       Schröder-SPD hat sich erst einmal nur auf drei Parteien verteilt, die
       insgesamt keine Mehrheit „links von der Union“ ergeben. Die aktuellen
       Wählerwanderungen zeigen, dass die Grünen vor allem in den Großstädten wie
       im westlichen Hinterland auch von der Union Stimmen beziehen – von Wählern,
       denen die Anbiederung an die Rechte zu weit gegangen und die CSU ein
       permanentes Ärgernis ist. Hier kommt ein kultureller Wandel zum Ausdruck,
       der aus dem „rot-grünen Lager“ herausführt und Koalitionen mit der CDU
       endgültig enttabuisiert. Was ihre menschen- und bürgerrechtlichen und auch
       ihre egalitären und wohlfahrtsstaatlichen Positionen betrifft, bleiben die
       Grünen links. Doch beim Umwelt- und Klimaschutz können sie das überkommene
       Rechts-links-Schema überschreiten.
       
       Die Grünen gewinnen also auf Dauer, wenn sie nicht bloß die
       Verschrottungsprämie einer absehbaren Havarie der Großparteien kassieren,
       sondern deren Rückwärtsgewandtheit mit einem attraktiven Programm der
       Gegenwartsbewältigung und Zukunftssicherung begegnen und dieses auch mit
       wechselnden Koalitionspartnern auf den Weg bringen. Im Zentrum muss dabei
       die Abwendung von Klimawandel und Artensterben stehen, nicht als single
       issue einer Ökopartei, sondern als überzeugendes Transformationsvorhaben,
       das auf die Ursprungsideen der neuen sozialen Bewegungen seit den 1960er
       Jahren zurückführt: auf konkrete Utopien einer anderen Arbeit und eines
       besseren Lebens im Einklang mit den natürlichen Lebensgrundlagen, wobei die
       Gleichstellung der Geschlechter und die Generationengerechtigkeit noch
       weiter nach vorn gerückt sind.
       
       Bei Frauen und unter 35-Jährigen haben die Grünen eine Mehrheit. Da können
       sie in der Regierungsverantwortung auch erheblich mutiger agieren als
       zuletzt in Baden-Württemberg und Hessen. Das gilt für die Eindämmung des
       Flugverkehrs ebenso wie für eine entschiedene Verkehrswende und eine
       soziale Wohnungsbauinitiative. Und ihren Rückstand in den östlichen
       Bundesländern könnte die Partei ein Stück wettmachen, wenn sie sich als
       Anwältin der vernachlässigten Regionen erweist, von deren Problemen sich
       die AfD nährt.
       
       ## Nachhaltige Gesellschaft
       
       Am Ende gewinnen die Grünen nur, wenn sie eine glaubhafte Alternative in
       und für Europa darstellen. Die Vereinten Nationen haben die genannten
       Aufgaben mit der Agenda 2030 in einen globalen Gesellschaftsvertrag
       gegossen, und die einzelnen Kapitel dieser Agenda, die soziale Solidarität
       ebenso umfassen wie kulturelle Pluralität, sind nicht nur im reichen Norden
       mehrheitsfähig. Sticheleien, wonach die Grünen nur ein „cremiges“
       Privilegiertenmilieu, die Latte macchiato schlürfenden SUV-Mütter bedienen,
       fallen auf die Urheber dieser Vorurteile zurück.
       
       Wenn gefragt wird, worin die „Utopie“ der grünen Bewegung bestehe und was
       man der Neuen Rechten entgegensetzen kann, dann ist es genau diese in der
       Agenda umrissene Idee einer nachhaltigen und offenen Gesellschaft. Dabei
       behindert der Klimaschutz die wirtschaftliche Entwicklung nicht, wie oft
       behauptet, er kann sie sogar neu begründen. Das kann die Grünen endlich
       auch für Gewerkschaften interessant machen und für Unternehmen, welche die
       Vorzüge einer „grünen Wirtschaft“ erkannt haben. Nur mit den Grünen sind
       andere Arbeits(zeit)verhältnisse, eine soziale Grundsicherung und damit die
       Verhinderung von Kinder- und Altersarmut im Einklang mit den
       Umweltnotwendigkeiten zu erreichen.
       
       Die Grünen gewinnen also, wenn sie nicht nur ein vom Tageserfolg leicht
       besoffenes Milieu repräsentieren, sondern sich als machtvolle politische
       Alternative erweisen. Wenn sie nicht die alten Volksparteien imitieren,
       sondern das diffuse Bewegungsmilieu an politische Verantwortung
       heranführen. Wenn die Merkel-Union (unter wem auch immer) nach rechts
       rückt, ergeben sich neue Wählerschichten, die Grün auch auf Bundesebene an
       Schwarz heranreichen lassen.
       
       Die Grünen sind linksliberal und ökologisch, und sie müssen noch sehr viel
       europäischer werden. Dazu besteht jetzt das berühmte „Gelegenheitsfenster“.
       Denn auch wenn die Apparate der Großparteien schon auf die nächstes Jahr
       anstehenden Wahlen in ostdeutschen Ländern justiert werden, ist erst einmal
       eine Pause in der permanenten Kampagne, womit die AfD an Aufmerksamkeit
       verlieren wird und sich ganz auf ihre anstehende Zerreißprobe konzentrieren
       kann. Nur so kann auch in den Medien der Wechsel von deren Lieblingsthemen
       „Flüchtlinge-Islam-Kriminalität“ zu wirklich wichtigen Problemen erfolgen.
       Die Grünen können ihre humanistische Position in der Frage der Einwanderung
       untermauern, die nicht einfach „offene Grenzen für alle“ will, sondern
       durch multilaterale Kooperation und Friedenspolitik Massenflucht eindämmt
       und rationale Kriterien für Asylsuchende und Einwanderer definiert.
       
       Das ist ebenso wenig nationalstaatlich zu bewältigen wie Klimaschutz und
       sozialer Zusammenhalt, sondern nur in europäischer Gemeinsamkeit. Ob die
       Grünen darauf bereits hinreichend vorbereitet sind, müssen sie jetzt
       beweisen – mit einer stärkeren Europäisierung ihrer Politik, mit
       gleichgesinnten Bündnispartnern in allen EU-Staaten und auch mit
       attraktiven Spitzenkandidaten. Dafür müssten jetzt die beiden
       Parteivorsitzenden eintreten und zur Verfügung stehen.
       
       29 Oct 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Gruene-bei-der-Landtagswahl-in-Hessen/!5546149
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) daniel Cohn-Bendit
 (DIR) Claus Leggewie
       
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