# taz.de -- Kindesmisshandlung in der Türkei: Das Schweigen brechen
       
       > Ein Gericht verhängt 183 Jahre Haft für einen Mann, wegen sexueller
       > Misshandlung seiner Töchter. NGOs sprechen von einem Ausnahmeurteil.
       
 (IMG) Bild: NGOs fordern Präventivmaßnahmen, die Öffentlichkeit die Todesstrafe
       
       Der Angeklagte İlhan Z. schwört auf den Koran, schwört im Namen Gottes. Er
       leugnet die Taten. Obwohl eindeutige Aussagen seiner drei 12- bis
       16-jährigen Töchter vorliegen, beharrt er: „Ich habe das nicht getan. Die
       verleumden mich.“ Er beschimpft und bedroht die Anwält*innen und seinen
       Sohn, der ebenfalls gegen ihn ausgesagt hat. Anwält*innen,
       Prozessbeobachter*innen, Polizist*innen, Gendarmen, alle schämen sich,
       offen auszusprechen, was dem Angeklagten zur Last gelegt wird. Sie sagen
       lieber: „Er hat ‚etwas‘ getan“ statt „Er hat seine Töchter vergewaltigt.“
       
       In südosttürkischen Mersin, im Kreis Tarsus, steht İlhan Z. am 17. Juli vor
       Gericht, weil er sechs Jahre lang seine drei Töchter sexuell misshandelt
       haben soll. Hinter seinem Stuhl stehen zehn Polizisten. İlhan Z. wirkt
       gelassen. Der 53-Jährige ist groß und schlank, sein Haar ist ergraut, wenn
       er redet, sagt er immer wieder: „Ich schwöre“. Die Reihe hinter den
       Polizisten nehmen Vertreter*innen von Kinderrechtsvereinen ein, die den
       Prozess beobachten.
       
       Die Familie Z. kam nach dem Erdbeben in Van 2011 nach Tarsus. Außer İlhan
       Z. arbeitet die ganze Familie auf den Feldern. Für den Unterhalt der
       konservativen Familie, die wenig Kontakt zur Nachbarschaft hatte, sorgten
       Mutter, Töchter und Sohn. Bei den Verhandlungen sahen die Töchter den
       Angeklagten zwei Mal. Als vor Gericht der Tathergang verlesen wurde,
       erlitten sie einen Nervenzusammenbruch.
       
       Die Vergewaltigungen kamen heraus, weil die jüngste Tochter das Schweigen
       brach. Der Vater hatte sie mit der Hand auf dem Koran schwören lassen,
       niemandem ein Wort zu sagen. Doch irgendwann schwieg sie nicht länger,
       redete und brachte ihren Vater hinter Gitter. Eine der Töchter erzählt, sie
       habe immer rasch zum Koran gegriffen, sobald der Vater heimkam. Das konnte
       aber İlhan Z. nicht aufhalten. Die 16-Jährige verlangt, dass ihr Vater so
       streng wie möglich bestraft wird: „Ich will, dass er für jedes meiner
       Lebensjahre, das er zerstört hat, zehn Jahre Gefängnis bekommt.“
       
       ## Fast täglich wird ein Fall angezeigt
       
       Am Ende der Verhandlung verurteilt der Vorsitzende Richter den Angeklagten
       wegen sexualisierter Gewalt gegen seine Töchter, Freiheitsberaubung und
       weil er sie gezwungen hatte, Pornos zu sehen, zu insgesamt 183 Jahren Haft.
       Die Vorsitzende des Vereins Çocuk İstismarıyla Mücadele Derneği („Verein
       zur Bekämpfung von sexualisierter Gewalt gegen Kinder“), Saadet Özkan,
       zeigt sich zufrieden und sagt: „Ich hoffe, das ist ein Präzedenzurteil.“
       
       Saadet Özkan ist Lehrerin, 2014 deckte sie an ihrer Schule in Izmir auf,
       dass sechs Grundschülerinnen vom Rektor sexuell misshandelt wurden.
       Monatelang musste die Lehrerin allein dafür kämpfen, dass er zur
       Rechenschaft gezogen wird. Am Ende kam der Schulleiter ins Gefängnis. Dafür
       wurde Özkan mit dem vom US-Außenministerium vergebenen International Women
       of Courage Award („Preis für Frauen mit Mut“) ausgezeichnet.
       
       Nach diesem Fall gründete Özkan den Verein zur Bekämpfung von
       sexualisierter Gewalt gegen Kinder, von dem in kurzer Zeit in 30 Provinzen
       Ableger entstanden. Der Verein beobachtet landesweit über 100 Prozesse,
       bietet den betroffenen Minderjährigen und ihren Angehörigen anwaltliche und
       psychologische Unterstützung.
       
       Der Verein kümmere sich, soweit möglich, um jedes einzelne Kind, das
       innerhalb oder außerhalb der Familie Misshandlung oder Vernachlässigung
       erfährt und sich an sie wendet, sagt Özkan. „Fast täglich wird uns ein Fall
       angezeigt. Es gibt viel mehr Fälle als allgemein angenommen. Die
       tatsächlichen Zahlen übersteigen die offiziellen bei weitem.“ Das liegt
       unter anderem daran, dass Kinder häufig in der Familie sexuell misshandelt
       oder vergewaltigt werden. Wenn die Täter Angehörige oder nahe Bekannte
       sind, verheimlicht die Familie die Fälle oft. Özkan appelliert an
       Familienmitglieder: „Melden Sie es, sobald Sie etwas mitbekommen oder auch
       nur einen Verdacht haben!“
       
       ## „Der Albtraum ist vorbei“
       
       Die größte Unterstützung im Verein erfährt Saadet Özkan von dem
       Geschäftsmann Yücel Ceylan und der Rechtsanwältin Burcu Düzen. Beide
       beobachten überall in der Türkei Prozesse zu sexualisierter Gewalt gegen
       Kinder. Ceylan sagt, nahezu täglich seien sie in irgendeiner Stadt im
       Gericht. Die Fallzahlen seien in den vergangenen zehn Jahren in der Türkei
       gestiegen.
       
       Dem Verein Gewaltprävention und Rehabilitation zufolge wurden in der
       vergangenen Dekade über 300.000 Fälle an die Gerichte überstellt. Darin
       sind noch nicht die Fälle von Zwangsehen minderjähriger Mädchen erfasst.
       Die Statistiken des Justizministeriums sehen ganz anders aus. Die Daten der
       Jahre 2005 bis 2015 weisen hier nur 115.395 verhandelte Fälle von
       sexualisierter Gewalt gegen Kinder aus. So sehr sich die Statistiken
       unterscheiden, ein Anstieg ist auch in den Daten vom Ministerium zu
       erkennen. Während 2008 um 4.000 Fälle verzeichnet wurden, waren es 2009
       bereits über 12.000 und 2014 sogar über 18.000.
       
       Für 2017 und 2018 liegen bislang keine Zahlen vor. In der vorangegangenen
       Legislaturperiode stellte die CHP-Abgeordnete Gülay Yedekçi dazu eine
       Parlamentsanfrage. Weder das Familien- noch das Justizministerium nahmen
       Stellung zu den Zahlen.
       
       Nach dem Prozess gegen İlhan Z. steht Saadet Özkan in Tarsus draußen vor
       dem Gericht. Ihr Telefon klingelt, eine der Töchter des Verurteilten ruft
       an. „Der Albtraum ist vorbei“, sagt das Mädchen. Nach den türkischen
       Strafvollzugsgesetzen wird İlhan Z. mindestens 60 von den 183 Jahren, zu
       denen er verurteilt wurde, hinter Gittern sitzen.
       
       ## Hohe Haftstrafen sind die Ausnahme
       
       Diese hohe Strafe ist in der Türkei nicht der Normalfall. Die
       Ahndungspolitik bei Fällen von sexualisierter Gewalt sei nicht konsequent,
       kritisiert die Psychologin und Aktivistin Fahriye Cengiz, die sich auf das
       Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder spezialisiert hat. „Hier haben wir
       es mit einer Haftstrafe von 183 Jahren zu tun, aber es gibt andere Fälle
       mit niedrigeren Strafen oder sogar Straflosigkeit. Je nachdem, wie weit der
       Fall in die Öffentlichkeit kommt, wird milder oder härter bestraft“, sagt
       sie.
       
       Das belege, dass die Strafen vor allem Show seien. Gesetze und Strafmaß
       müssten aber unbedingt eindeutig sein. „Jeder muss bei einem solchen Fall
       von vornherein wissen, welche Strafe es dafür gibt. Auch wenn es keine
       Öffentlichkeit gibt, müssen Betroffene und Angehörige diese Garantie
       haben.“
       
       Während für Kindesmisshandlung in der Türkei bei manchen Fällen nur geringe
       oder gar keine Strafen verhängt werden, gibt es im öffentlichen Diskurs
       Debatten über die Einführung der Todesstrafe und chemische Kastration.
       Cengiz kritisiert diese Debatte als inhuman und rechtswidrig. „Bedauerlich,
       dass den Leuten als erstes die Todesstrafe einfällt, ohne dass über
       Präventivmaßnahmen in Familien, Bildung, Gesundheits- und Rechtswesen auch
       nur geredet wird.“
       
       In der Türkei führen NGOs Kampagnen zur Einführung von Präventivmaßnahmen
       durch und fordern, dass der Staat handelt. Letztes Jahr verteilte die
       Frauen-Plattform Mersin überall in der Stadt rote Luftballons, um
       Öffentlichkeit für das Thema zu schaffen. Die Psychologin Fahriye Cengiz
       glaubt, solche Kampagnen könnten staatliche Einrichtungen und
       Politiker*innen auf das Problem aufmerksam machen und ein Klima schaffen,
       in dem sexualisierte Gewalt gegen Kinder öffentlich thematisiert wird.
       
       Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
       
       2 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Abidin Yağmur
       
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 (DIR) taz.gazete
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