# taz.de -- Ian Johnson über Liu Xiaobo: Der Mann, der blieb
       
       > Der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo dürfe keinesfalls vergessen
       > werden, mahnt der Autor und Sinologe Ian Johnson.
       
 (IMG) Bild: Ian Johnson vergleicht Liu Xiaobo mit dem Freiheitskämpfer Tan Sitong
       
       Rede des US-amerikanischen Sinologen und Schriftstellers Ian Johnson vom
       13. Juni 2017 in Berlin anlässlich einer [1][Gedenkveranstaltung zum ersten
       Todestag des Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo]. 
       
       Im Jahr 1898 verbündeten sich einige der größten Denker der Qing-Dynastie
       mit Kaiser Guangxu, einem jungen Herrscher, der versuchte, notwendige
       Reformen in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Bildung durchzusetzen.
       Doch seine Gegner schlugen schnell zurück, setzten ihn ab, woraufhin seine
       Berater flohen, um ihr Leben zu retten.
       
       Einer jedoch blieb zurück. Er hieß Tan Sitong, ein junger Intellektueller
       aus der Provinz. Tan wusste, dass seine Entscheidung dem Tod gleichkäme,
       aber er hoffte, dass seine Hinrichtung die Bevölkerung aufrütteln würde.
       
       Tan war einer der brillantesten Essayisten seiner Zeit. Er hatte ein Buch
       gegen den Absolutismus publiziert. Er hatte Schulen und Zeitungen
       gegründet, und war landesweit als politischer Reformer bekannt. Er hatte
       allen Grund zu fliehen, um an künftigen Kämpfen teilnehmen zu können. Aber
       diese Gründe machten seine Entscheidung zu bleiben umso wertvoller: Eine
       Hinrichtung, vollstreckt von denjenigen, welche notwendige Reformen
       verhinderten, könnte vielleicht das Fanal sein, das die Menschen endlich
       aufweckt.
       
       Auf dem Caishikou-Hinrichtungsgelände sagte Tan einige der bekanntesten
       Worte während Chinas anderthalb Jahrhunderte andauernden Versuchs, einen
       modernen pluralistischen Staat zu errichten:
       
       „Ich wollte die Verräter töten aber es fehlte mir an der Kraft, die Welt zu
       ändern. Hier ist der Platz, wo ich sterben soll! Freut Euch! Freut Euch!“
       
       Seitdem Liu Xiaobo vor einem Jahr an Krebs gestorben ist, denke ich oft an
       Tan Sitongs Schicksal. Trotz der 120 Jahre, die sie trennen, gibt es einen
       starken Widerhall: erstens, ihre Entscheidung zu bleiben, und zweitens, was
       ihre historische Rolle angeht. Im heutigen China ist Tan Sitong offiziel
       anerkannt als ein Vorreiter des modernen Chinas. Wird das auch eines Tages
       für Liu der Fall sein?
       
       Als die Proteste 1989 rund um den Tiananmenplatz in Peking ausbrachen, war
       Liu Xiaobo im Ausland, aber er entschied sich, zurückzukehren. Nach deren
       Niederschlagung saß Liu im Gefängnis, wurde freigelassen und hatte mehre
       Gelegenheiten, China zu verlassen. Er entschied sich wieder dafür zu
       bleiben. Nach einer zweiten, härteren und längeren Freiheitsstrafe kam er
       nochmals frei und hätte China wieder verlassen können. Er entschied aber
       wiederum zu bleiben, weil er damit seinen politischen Überzeugungen eine
       ganz andere moralische Tiefe gab. Damit riskierte er zwar keine
       Hinrichtung, aber er nahm die Gefahren, die mit jeder Gefängnisstrafe in
       China zwangläufig verbunden sind, wissend in Kauf. Es war keine aktive
       Entscheidung zu sterben, aber die Bereitschaft diesen Preis zu zahlen.
       
       Dies wurde besonders klar nach Liu Xiaobos dritter Verhaftung infolge
       seiner Mitwirkung an der Charta 08, der berühmten Petition für politische
       Reformen. 2009 wurde zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Ende Mai 2017
       wurde (nach offiziellen Angaben) bei Liu Leberkrebs im Endstadium
       diagnostiziert – er durfte erst zum Sterben in ein Krankenhaus.
       
       Zu Lius Rolle in der chinesischen Geschichte hat der chinesische Staat
       schon ein Urteil gefällt. Nach seinem Tod, schrieb die Parteipresse, dass
       Liu durch den Westen in die Irre geführt worden sei und schnell vergessen
       werden würde. Eine parteistaatliche Zeitung schrieb, dass Helden nur
       bestehen können, wenn ihre „Bestrebungen und Beharrlichkeit einen Wert für
       die Entwicklung ihres Landes und dessen historische Strömungen darstellen.“
       
       In der Tat ist diese Behauptung der Knackpunkt: was sind Chinas
       langfristige historische Strömungen? Sind es die von Tan Sitongs und Liu
       Xiaobo? Oder andere? Die Kommunistische Partei rechtfertigt ihre Herrschaft
       folgendermaßen: Die ersten 30 Jahren nach ihrer Machtübernahme 1949
       herrschte sie dank eines kommunistischen Mystizismus: die Kräfte der
       Geschichte hätten die KP auserwählt, um China zu retten. Dann kamen 30
       Jahre Entwicklungsdiktatur: wir schaffen schnelles Wachstum, also dürfen
       wir regieren.
       
       Seit ungefähr einem Jahrzehnt jedoch ist diese Begründung in den
       Hintergrund getreten, weil die Wirtschaft langsamer wächst und für viele
       Leute Wohlstand eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Jetzt bedienen
       sich Chinas Herrscher neuer Begründungen: z.B. die Wiederherstellung alter
       Traditionen, besonders alter Werte und Sitten, und sie versprechen damit
       eine neue moralische Ordnung zu schaffen. Das ist das Programm Xi Jinpings,
       und seines Ausrufs einer neuen Ära.
       
       Aber wie kann man dies in Einklang mit der Behandlung von Menschen wie Liu
       Xiaobo bringen? In einem seiner Aufsätze hat Liu eine vorausahnende
       Bemerkung über Dissens gemacht. Er schrieb, dass Menschen heutzutage nicht
       mehr bereit sind, es hinzunehmen, wenn die Regierung andere Menschen
       wegsperrt nur weil sie ihre Meinung äußern.
       
       Vielleicht ist ein Grund dafür, dass das Recht auf konstruktive Kritik seit
       mehr als 2000 Jahren ein Teil der chinesischen politischen Kultur ist.
       China hat eine lange Geschichte, und viele Kaiser haben konstruktive
       Ratschläge ignoriert, und Leute sogar hingerichtet, weil sie wagten, Kritik
       zu äußern. Aber die chinesische Geschichtsschreibung hat solche Herrscher
       immer als böse, unklug, und starr dargestellt.
       
       Deswegen haben das Leben und der Tod von Liu Xiaobo eine solch große
       Bedeutung: er steht für eine Schlüsselfrage der chinesischen Reformer des
       letzten Jahrhunderts: nicht, wie man China reich und stark machen kann,
       sondern wie man ein humaneres und gerechteres politisches System schaffen
       kann.
       
       Wie Tan Sitong kannte Liu Xiaobo seine historische Verantwortung. Für Liu
       war es seine Pflicht als öffentlicher Intellektueller an die Zukunft zu
       denken und den guten Kampf zu kämpfen, ohne Rücksicht auf persönliche
       Verluste. So wie er in seinem Essay „Über Einsamkeit“ 1988 schrieb:
       
       Ihre wichtigste (Aufgabe), ja ihr alleiniges Los ist es, Gedanken, die
       ihrer Zeit voraus sind, zu artikulieren. Die Vision des Intellektuellen
       muss sich jenseits der Reichweite der zulässigen Ideen und der
       Vorstellungen von Ordnung erstrecken. Er muss entdeckungsfreudig sein, ein
       einsamer Vorreiter. Erst später, nachdem er in seinen Bemühungen weit
       vorangeschritten ist werden andere den Wert seiner Gedanken entdecken. Er
       kann die Vorzeichen von Katastrophen in Zeiten des Wohlstands erkennen, und
       in voller Selbstvertrauen die bevorstehende Vernichtung erleben. 
       
       Wir brauchen so einen weiten Blickwinkel, um der Ankündigung der Regierung
       entgegenzutreten, dass Liu in Vergessenheit geraten wird. Es ist nicht so,
       dass sein Tod die Bevölkerung aufrütteln und die Regierung stürzen wird.
       Aber er ist von Bedeutung, weil sein Leben, seine Ideen, und sein Tod so
       ein Teil des öffentlichen Gedächtnisses werden können. Wegen der Zensur
       wissen heutzutage viele Chinesen vermutlich nur relativ wenig über Liu
       Xiaobo. Das ist jedoch nur kurzfristig betrachtet so. Auf lange Sicht wird
       es sich ändern.
       
       Das ist keine romantische Fantasie, sondern eine realistische Bewertung der
       Wirkung eines öffentlichen Gedächtnisses in jedem Land, besonders in China.
       Durch Chinas lange Geschichte hindurch sind aufrechte Menschen – z.B.
       Chinas größter Gelehrter, Konfuzius, und Chinas erster und größter
       Historiker, Sima Qian –zu Lebzeiten ignoriert und verfolgt worden. Aber im
       Nachhinein hat die Geschichtsschreibung sie anerkannt und geehrt.
       
       Genau so ist die Geschichte in China immer geschrieben worden. Immer wieder
       werden freidenkende Menschen verbannt, hingerichtet oder auf irgendeine
       Weise zum Schweigen gebracht. Sie werden unterdrückt, begehren wieder auf
       und sie stehen wieder und wieder auf – ein permanenter Kampf gegen die
       Kaiser. Sie stehen auf und werden angegriffen, aber sie kämpfen weiter.
       
       Und eines Tages, wie es oft genug in der Geschichte passiert, vielleicht
       erst in etlichen Dekaden, werden die, die für Menschen kämpfen, gewinnen,
       und die wahre Geschichte unseres Zeitalters wird erst dann geschrieben.
       
       14 Jul 2018
       
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