# taz.de -- schriften zu zeitschriften: Zeitzeugnis in der Sprache der Besatzer
       
       > Intellektuelle Überwältigung: Die Kulturzeitschrift „Lettre
       > International“ feiert 30. Geburtstag
       
       Die Lettre International ist einzigartig auf dem schwindsüchtigen Markt der
       internationalen Kulturzeitschriften. Gegen den Lesetrend zum Kurzatmigen
       und Virtuellen setzt sie konstant auf intellektuelle Überwältigung in
       sperrigem Tabloid-Format. Jedes Heft, von namhaften Künstler*innen
       gestaltet, präsentiert ebenso namhafte internationale Autor*innen in
       deutscher Übersetzung, die in Reportagen, Essays und analytischen
       Tiefenbohrungen über provinzielle Grenzen hinweg denken und
       Weltzusammenhänge in ihrer ganzen Kompliziertheit auffalten.
       
       Mithilfe einer Anschubfinanzierung der taz auf den Weg gebracht, feiert die
       Zeitschrift unter Leitung des taz-Mitbegründers Frank Berberich nun ihren
       dreißigsten Geburtstag. Dass sie in dieser Form existiert, unabhängig und
       nicht subventioniert, allein durch ihre Leser, Anzeigen, lachhafte Honorare
       und die Selbstausbeutung dreier Mitarbeiter defizitfrei getragen, ist eine
       Leistung, die nicht hoch genug geschätzt werden kann.
       
       Deswegen: Chapeau Lettre, herzlichen Glückwunsch zum 30sten! (Siehe taz vom
       28. 5. 2018)
       
       Für das aktuelle, 180 Seiten dicke, wie immer unhandliche Geburtstagsheft
       der Lettre haben 80 Schriftsteller und Künstler diverse Beiträge geliefert,
       bei denen sich keine rechte Lesefreude einstellt.
       
       Ausnahme-Highlight und Verdienst dieser Ausgabe ist die deutsche
       Erstveröffentlichung der Tagebuchaufzeichnungen Jean Moulins. Moulin
       setzte, als Präfekt von Chartres, dann als Leiter der französischen
       Résistance, dem aufmarschierenden Barbarentum der deutschen Wehrmacht
       mutigen, in Folter und Tod endenden Widerstand entgegen. Die
       Tagebuchaufzeichnungen schildern vier Tage im Juni 1940, während derer in
       Chartres ein Stück menschliche Zivilisation durch die Deutschen zu Grabe
       getragen wurde.
       
       Mit diesem deutschen Erstabdruck macht Lettre zur Recht auf den Skandal
       aufmerksam, dass dieses Zeugnis, nach der französischen
       Erstveröffentlichung durch Moulins Schwester Laure im Jahr 1947, in der
       Sprache der deutschen Besatzer bis jetzt nie veröffentlicht wurde.
       
       Keiner der weiteren 27 Texte besitzt vergleichbare Dringlich- und
       Notwendigkeit angesichts unserer Gegenwart. Woran es mangelt, ist
       Welthaltigkeit, für die der Journalismus der Lettre eigentlich stehen will.
       Keine einzige Reportage sorgt für Luft im vergeistigten Dickicht.
       
       Das Themenspektrum der Analysen präsentiert sich als ein Sammelsurium aus
       Krisensymptomen – Technologie-, Intelligenz- und Zukunftskrisen, Krisen der
       Männlichkeit und Geschlechteridentitäten, Krise der Kunst, Krise des
       Journalismus und der visuellen Medien des 20. Jahrhunderts, Krise der Macht
       und Aufstieg der Gangsterpolitik, Krise der Großprojekte und Krise des
       Gehens in Städten.
       
       Kaum einer der Texte aber liefert intellektuelle Erleuchtungen, die man so
       oder anders und auch überzeugender nicht schon einmal lesen konnte. Kaum
       Texte auch, die sich an einer umfassenden Draufsicht auf unsere
       Verhältnisse und unser Leben jetzt versuchen.
       
       Das ist schade. Und ärgerlich. Denn man hat nicht unbegrenzt Zeit, um sich
       den wertvollen Luxus zu leisten, lange und schwierige Texte zu lesen.
       Rausschmeißer in dieser Hinsicht ist Karl Heinz Bohrer (deutscher
       Großintellektueller, Jahrgang 1932). Dem werden sieben wahrlich
       erschöpfende Gesprächsseiten eingeräumt, auf denen er sich über eines
       seiner Lebensthemen ausmäandern kann – das „Versprechen des Jetzt“ (als
       Unterbrechung des Alltäglichen). Als „sprühende Meditation über die
       Potentiale der Zeit“ wird dieser Text beworben. Und sehen wir von der
       Unmöglichkeit einer „sprühenden“ Meditation ab, so ist eine größere Distanz
       zum konkreten, gegenwärtigen Jetzt kaum denkbar, eine Distanz allerdings
       ohne die erleuchtende Qualität des Fremden.
       
       Ist das intellektuelle Altherrenarroganz? Kann man so ein Nachwuchspublikum
       anlocken, das die nächsten dreißig Jahre Lettre sichert? Im Sinne einer
       geistreichen Auseinandersetzung mit den Problemen unserer Welt wäre dies
       ein dringliches Unterfangen. Eva Berger
       
       „Lettre International“, Nr. 121, Sommer 2018, 186 Seiten, 17 Euro
       
       25 Jul 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eva Berger
       
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