# taz.de -- Die Wahrheit: Mit dem ICE in die Mongolei
       
       > Immer mehr Züge der Deutschen Bahn verschwinden neuerdings irgendwo im
       > Nirgendwo …
       
 (IMG) Bild: Irgendwo am Arsch der Welt tuckert so mancher ICE dahin
       
       Gemunkelt wurde es hinter vorgehaltener Hand immer schon: Bei der Deutschen
       Bahn erlitten Züge nicht nur stundenlange Verspätungen, mitunter
       verschwänden sie ganz. Samt der Passagiere. Jetzt herrscht traurige
       Gewissheit. Wie die Bundesregierung jüngst mitteilte, verließen im
       vergangenen Jahr knapp 97.000 Züge ihren Startbahnhof, aber kamen nie an
       ihrem Zielbahnhof an. Die Wahrheit hat sich auf Spurensuche begeben.
       
       Die Mongolei, circa 250 Kilometer östlich von Ulan Bator. Eine unwirtliche
       Region, nur per Helikopter zugänglich. Und offenbar für den ICE 1508, der
       eigentlich montags bis freitags von München nach Warnemünde fährt. Jetzt
       hat er seine vorläufige Endhaltestelle mitten in der Steppe gefunden. In
       Sichtweite einer wilden Yak-Herde.
       
       „Irgendwo bei Wittenberg müssen wir wohl eine falschgestellte Weiche
       mitgenommen haben“, versucht sich Zugführer Armin Zuber in Selbstkritik.
       Zuber, ein kleiner energischer Mann Ende fünfzig mit klodeckelgroßen
       Händen, kneift seine vom Fahrtwind geröteten Augen zusammen und blickt
       stoisch in die Weite. Wichtig sei nun für alle Beteiligten, das Beste aus
       der Situation zu machen.
       
       ## Passagiere auf Yak-Jagd
       
       Als Zugführer weiß er, was Verantwortung bedeutet. „Ich habe noch nie einen
       Fahrgast im Stich gelassen, und das werde ich auch jetzt nicht tun!“, sagt
       Zuber und zwirbelt dabei nachdenklich an seinem Schnurrbart. Seit der
       unplanmäßigen Ankunft in der Mongolei delegiert er die Gruppe der rund
       fünfzig Passagiere. Karola Speidel, eine Krankenschwester aus Essen, hat
       Zuber zur Yak-Jagd eingeteilt. Bislang ohne Erfolg.
       
       „Das einzige, was ich bisher bekommen habe, ist eine Yak-Haar-Allergie“,
       schimpft Speidel und zeigt mehrere rote Quaddeln auf ihrem Arm. Sie wirft
       angeekelt einen kleinen Stein in Richtung eines grasenden Rinds. Zugführer
       Zuber legt der korpulenten Krankenschwester versöhnlich eine Hand auf die
       Schulter. Er weiß, das Schlimmste in so einer Situation ist, wenn man sich
       aufgibt. „Ein fleischloser Tag ist doch gut für die Blutwerte, Karola.“
       
       „Zeit für die tägliche Durchsage!“, ruft Zuber jetzt gutgelaunt und eilt in
       den ICE. Gewohnheiten müsse man pflegen, zumindest, so lange das
       Notstromaggregat noch Saft habe. „Sehr geehrte Fahrgäste, wegen
       Verzögerungen im Betriebsablauf haben wir zurzeit leider eine mehrwöchige
       Verspätung. Wir halten sie auf dem Laufenden, ob Sie irgendwann noch mal
       Anschlusszüge erreichen können.“
       
       Frank Rottmann, ein hochgewachsener Mann mit schütterem Haar, zeigt sich
       zwar von Zubers täglichen Durchsagen genervt, schließlich fallen sie
       regelmäßig in die Zeit seines Mittagsschlafs. Ansonsten scheint er aber
       durchaus zufrieden zu sein mit der neuen Situation. „Ich habe die letzten
       zwanzig Jahre hinter einem Sparkassenschalter gearbeitet. Ich war gerade
       auf dem Weg in meinen jährlichen Ostsee-Urlaub in Warnemünde. Das hier ist
       doch endlich mal eine Abwechslung!“
       
       Zugführer Zuber hat Rottmann in die Gruppe „Verpflegung“ eingeteilt. Er ist
       jetzt für das Bordbistro zuständig. „Das Angebot ist mittlerweile etwas
       eingeschränkt. Aber immerhin regional und nachhaltig!“, erklärt Rottmann.
       Es gebe statt Kaffee im Pappbecher frische Yak-Milch und statt lauwarmen
       Würstchen knackiges Wurzelgemüse. Bis vor Kurzem habe er sogar Fleisch im
       Angebot gehabt.
       
       ## Schneeleopard überfahren
       
       Zuber hatte bei Ankunft des ICEs in der Steppe erst einen Personenschaden
       gemeldet, doch dann hätten sie den Schneeleoparden vor dem Zug gefunden.
       „Tragisch. Der ist ja eh vom Aussterben bedroht“, bedauert Rottmann. Zuber
       sieht es pragmatisch: „Klassischer Roadkill. Aber geschmacklich gar nicht
       so übel.“
       
       Dann erscheinen wie aus dem Nichts mehrere mongolische Hirten, die wild
       gestikulierend auf den gestrandeten ICE deuten. Zuber geht zu ihnen hinüber
       und versucht, sich mit Händen und Füßen zu verständigen. Nach einer guten
       halben Stunde kommt er zurück. Er ist überglücklich: „Ich habe verhandelt.
       Wir dürfen bleiben!“, ruft er der versammelten Schar der Passagiere zu. Der
       Beifall der Gruppe ist verhalten.
       
       Zuber erklärt, dass die Hirten den ICE als Heiligtum betrachteten. Ein
       Geschenk Gottes, direkt aus dem Himmel gesandt. „Auf Monoglisch nennen sie
       den Zug ‚хонь Бурхан‘, was so viel wie ‚Großes Schaf Gottes‘ heißt!“
       
       Für das Bleiberecht habe er allerdings den Hirten gestatten müssen, den ICE
       jeden Tag zwischen drei und sieben Uhr früh für ihr Morgengebet nutzen zu
       dürfen. „In der Zeit können wir ja draußen unsere Morgengymnastik machen“,
       versucht Zuber direkt kritische Stimmen aus den Reihen der Passagiere zu
       besänftigen. Der unermüdliche Zugführer beweist es einmal mehr: Er und die
       Deutsche Bahn sind es gewohnt, mit unzufriedenen Reisenden umzugehen.
       
       9 May 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nico Rau
       
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